Lesegewohnheiten

In den letzten Tagen hatte ich begonnen, den ersten Roman von Philip Pullmans Prequel-Serie zur legendären Dark-Materials-Trilogie, zu lesen. Ich hatte La Belle Sauvage als E-Book bei den Berliner Öffentlichen Bücherhallen ausgeliehen, und die Leihzeit ging heute zu Ende, obwohl ich erst bis zur Hälfte des Romans vorgedrungen war. Natürlich gibt es bereits eine Warteschlange, und so muss ich mich jetzt erstmal ein bisschen gedulden, bis ich weiterlesen darf. Pullman schreibt gut, das Buch ist eine typisch immersive Young-Adult-Leseerfahrung, es umgarnt und fängt seine Leser*innen ein, man vergisst beim Lesen die Zeit.

Eric Ravilious: The Vale of the White Horse (1939, Bild: Public Domain)

Bei einem anderen Buch von meinem Lesestapel der Advents- und Weihnachtszeit ist die Lese-Erfahrung eine andere gewesen: The Old Ways von Robert MacFarlane ist ebenfalls hervorragend geschrieben, geradezu hypnotisch. Aber hier gibt es zum zentripetalen, hineinziehenden Sog des Textes eine gegenläufige, zentrifugale Kraft. Ich habe das Buch auf dem Kindle Paperwhite gelesen, aber immer ein zweites Gadget zur Hand gehabt, idealerweise das iPad, mindestens aber das Smartphone. Diese dienten mir dazu, den vielen Spuren weiter zu folgen, denen der Text selbst nachgeht, die aber auch aus ihm und über ihn hinausweisen.

Der Broomway im britischen Wattenmeer nördlich der Themsemündung ist einer der gefährlichsten Wanderwege Großbritanniens (Foto: Helen Miller / Wikimedia Commons)

MacFarlane schreibt über Wege, darüber, was das Wandern, das Begehen oder Befahren von Wegen mit Menschen macht, über die Berührungsflächen von Naturerfahrung, Leben und Kunst. Und es sind natürlich zunächst die Landschaften, die einen neugierig machen, viele davon entlegen, wie die Inselgruppe der Äußeren Hebriden oder ein Teil des Himalaya-Gebirges in der chinesischen Provinz Sichuan. So ist meine erste Anlaufstelle für gewöhnlich Google Maps gewesen, wo ich mit Karten- und Satellitenansichten in die besuchten Gegenden eingetaucht bin und nach Möglichkeit von den hinzugeschalteten Fotos Gebrauch gemacht habe.

Auf der entlegenen Felseninsel Sula Sgeir im Nordatlantik werden einmal im Jahr von örtlichen Fischern die jungen Basstölpel (Gugas) gejagt, die auf den Äußeren Hebriden als Delikatesse gelten (Foto: CC / Robert MacFarlane)

Aber für MacFarlane ist die Naturerfahrung immer auch verbunden mit menschlichen Begegnungen – sei es mit aktuellen Begleitern, sei es mit literarischen oder anderweitig künstlerischen Vorgängern. Die meisten von denen haben ihre eigenen Spuren im Internet hinterlassen. Und so habe ich mich beim Lesen seines Buches ständig verlaufen und verloren, bin hängen geblieben zum Beispiel bei den folgenden Persönlichkeiten:

  • Ian Stephen – Segler, Dichter, Geschichtenerzähler, bildender Künstler und experimenteller Heimatkundler von der Insel Lewis
  • Steve Dilworth – Landschaftskünstler und Bildhauer ebendort, der in seinen Werken Dinge versteckt
  • Nan Shepherd – 1981 verstorbene schottische Dichterin und Bergsteigerin, die die Cairngorm Mountains zum Schauplatz ihrer mystischen Naturerfahrung gemacht hat
  • Eric Ravilious – im 2. Weltkrieg gefallener britischer Maler und Illustrator, berühmt für seine Aquarelle, vor allem von den South Downs und anderen englischen Landschaften
  • Edward Thomas – einflussreicher walisischer Schriftsteller und Dichter, der erst kurz vor seinem Tod während der Schlacht von Arras im 1. Weltkrieg begonnen hatte, Gedichte zu schreiben

Dieses explorative Lesen erzeugt bei mir einen suggestiven Flow, der mich beglückt und an meine frühen intellektuellen Entdeckungsreisen in den späteren Schul- und frühen Universitätsjahren erinnert.

Upgrading Democracy

Gibt es eigentlich schon Badges, mit denen man sich als ‘Verfassungspatriot’ outen kann? Ich erinnere mich an eine Zeit, es war Mitte der 70er Jahre, da fanden wir es fragwürdig, dass Beamte einen Eid auf die Verfassung leisten mussten und anhand ihrer Loyalität gegenüber der ‘freiheitlich-demokratische Grundordnung’ (FDGO) beurteilt wurden. Dann kamen Dolf Sternberger und Jürgen Habermas mit dem Begriff des Verfassungspatriotismus und werteten damit Grundgesetz und FDGO in einem interessanten neuen Sinn auf, indem sie sie gegen einen völkisch-ethnisch oder auch kulturell motivierten Nationalismus in Anschlag brachten. Als ich schließlich 2004 selbst meinen Eid auf das Grundgesetz und die Verfassung des Landes Hessens ablegen musste, hatte ich keinerlei Bauchschmerzen mehr dabei, sondern war sogar ein wenig stolz auf diesen Schritt.

In der momentanen politischen Gemengelage, die einem überwiegend fragwürdige Identifikationsangebote macht, scheinen kluge Menschen ein Problem damit zu haben, Position zu beziehen. Zynismus beherrscht den Diskursraum, nicht nur bei denen, die den rationalen, konstruktiven Diskurs komplett ablehnen. Darauf hat Juli Zeh in ihrer Böll-Preis-Rede sehr eindrucksvoll aufmerksam gemacht.

In einem etwas anderen Zusammenhang – der Debatte um die Zukunft der öffentlich-rechtlichen Medien (ÖRM) – habe ich darüber nachgedacht, wie man einen produktiven Diskurs stärken könnte. Wie kann es uns gelingen, diejenigen zu identifizieren und zusammenzubringen, die an einer konstruktiven Debatte interessiert sind, auch wenn sie im einzelnen vielleicht sehr weit von einander abweichende Ziele und Positionen vertreten?

Zunächst dachte ich damals, es müsse so eine Art ‘Grundschwur’ auf den Fortbestand der ÖRM geben, auf den man die Teilnehmer verpflichten, und mit Hilfe dessen man destruktive Stimmen aus der Debatte einfach ausschließen könne. Innerhalb einer so abgesteckten Arena könnte man dann – ungestört vom Gelärme destruktiver Trolle – auch hart und kontrovers darüber diskutieren, wie es mit den ÖRM weitergehen soll.

Wenn man es genauer betrachtet, ist das jedoch kaum machbar, denn die rahmengebenden begrifflichen Grenzen dessen, was als ‘Fortbestand der ÖRM’ gelten kann, sind nicht von vornherein bestimmbar, sondern müssen in weiten Teilen selbst Resultat des Diskussionsprozesses sein. Ein Beispiel: Viele durchaus wohlmeinende Kritiker glauben, dass sich der Auftrag der ÖRM auch mit einem Abo-Modell anstelle der gegenwärtigen ‘Zwangsbeiträge’ realisieren ließe. Ich glaube, diese Position lässt sich argumentativ widerlegen, aber ich würde sie aus dem Diskurs nicht ausschließen wollen. Wir benötigen also ein flexibleres Modell, das eher darauf abzielt, geteilte Prämissen und Werte zu identifizieren, um dann von diesen geteilten Voraussetzungen aus Meinungsunterschiede zu identifizieren und im Idealfall auszuräumen.

Audrey Tang (Foto: daisuke1230 / Wikimedia Commons)

Zwei Artikel in Wired, der erste von Kate O’Flaherty und der zweite von Carl Miller, haben mich jetzt auf Audrey Tang, die legendäre Hackerin und Digitalministerin von Taiwan, aufmerksam gemacht. Tang war auch auf der letzten Berliner re:publica für einen Vortrag zugeschaltet, aber das habe ich leider verpasst. Sie und ihr Team haben unter anderem das Projekt vTaiwan gestartet, das versucht, politische Entscheidungsprozesse des Landes rationaler und konstruktiver zu gestalten. Sie bedienen sich dabei einer in Kanada entwickelten Methode, der sogenannten ‘focussed conversation method’, sowie einer unterstützenden Software namens pol.is. Diese hilft dabei, Kohärenz in Deliberationsprozesse in großen Gruppen zu bringen, indem sie unter anderem hervorhebt, wo in der Gruppe Konsens besteht. Dieser kleine, aber entscheidende Unterschied zu den üblichen Diskursen in sozialen Medien, in denen auch der kleinste Dissens dramatisch überbetont wird, ist in meinen Augen genial und für das Überleben unserer demokratischen Öffentlichkeit essentiell.

Pol.is Positionsraum

Das Verfahren wäre nicht nur auf die öffentlich-rechtlichen Medien anwendbar, sondern auch auf weiter gefasste Themen wie die Zukunft unserer Demokratie, wie Multikulturalismus und Europa, und ich will den Spuren, die die Artikel auf Wired gelegt haben, in den nächsten Monaten unbedingt nachgehen. Auf dem langen Weg zu einem Democracy Upgrade à la Audrey Tang schadet es jedoch nicht, schon mal ein wenig Farbe zu bekennen. Und dies kann man auf mehreren Ebenen tun, am besten in der bereits beschriebenen Reihenfolge:

  • Zunächst mit einem inklusiven Ansatz, um Menschen mit anderen Positionen zur Diskussion einzuladen. Dies tut man am besten, indem man geteilte Annahmen und Werte identifiziert.
  • Dann aber mit zugespitzten, spezifischeren Positionen, um den eigentlichen deliberativen Prozess in Gang und auch voran zu bringen.

Vorgänge in unseren östlichen und südöstlichen Nachbarländern (vor allem Polen und Ungarn) zeigen, dass nicht nur das öffentlich-rechtliche Mediensystem, sondern auch die ‘freiheitlich-demokratische Grundordnung’ schneller ausgehebelt werden können, als die meisten von uns dachten. Wie gefährdet auch das deutsche Grundgesetz ist, hat kürzlich der Verfassungsrechtler Maximilian Steinbeis in einem Beitrag für APuZ gezeigt. In diesem Sinne noch einmal meine Frage vom Anfang: Gibt es eigentlich schon Badges, mit denen man sich als ‘Verfassungspatriot’ outen kann?

Verspätungsalarm auf dem 36c3

David Kriesel repräsentiert eine neue Form des Public Intellectual, er ist ein Public Data Scientist. Seinen Vortrag über die Arbeit der SPIEGEL-ONLINE-Redaktion, den er vor drei Jahren auf dem 33c3 gehalten hat, zeige ich regelmäßig meinen Studierenden als ein Lehrstück nicht nur über die Grundlagen des Datenjournalismus, sondern auch über aktuellen Onlinejournalismus. Kriesel nutzt offene Schnittstellen und schaut anhand von öffentlich zugänglichen Daten von außen in eine Organisation hinein. Solch eine ‘statistische Phänomenologie’ ist natürlich nicht ganz frei von Risiken und Fehlerquellen (wie Kriesel selbst redlicherweise auch immer wieder betont), aber es ist trotzdem erhellend und eröffnet eine neue Sicht auf wichtige gesellschaftliche Akteure.

David Kriesel bei der Arbeit (Screenshot / YouTube)

Jetzt hat David Kriesel wieder zugeschlagen und vor mehr als 5.000 Teilnehmer*innen auf dem 36c3 in Leipzig die (Un-)Pünktlichkeit der Deutschen Bahn anhand – wie er es gerne nennt – ‘vorratsdatengespeicherter’ Fahrplandaten rekonstruiert. Die Ergebnisse sind unterm Strich wenig überraschend: Die Bahn hübscht ihre Verspätungsstatistik auf, indem sie ausgefallene Züge herausrechnet, es gibt im Netz der Deutschen Bahn Krisenregionen (Nordrhein-Westfalen, insbesondere rund um Köln und Bonn) und Verspätungs-Hotspots (Frankfurt und Hamburg), ICEs sind besonders hitzeausfallanfällig etc. All das wird jeder Dauerfernpendler sofort aus eigener Erfahrung bestätigen können. Aber abgesehen davon, dass David Kriesel diese Einsichten auf eine unvergleichlich lustige und anschauliche Weise präsentiert, besteht in der Vorhersehbarkeit der Ergebnisse für den leidgeplagten Bahnkunden gerade eine Befriedigung. Endlich wird einmal objektiv und mit wissenschaftlichen Methoden nachgewiesen, worunter wir dauerhaft, kollektiv und zugleich irgendwie allein gelassen, Woche für Woche zu leiden haben.

Der wichtigste Mentor

Willy Stöwer: Der Untergang der Titanic (coloriert) (Bildquelle: Wikimedia Commons)

Und dann ist da noch ein Buch, das mich gerade begleitet: Der Untergang der Titanic von Hans Magnus Enzensberger. Man kann sich kaum ein passenderes Werk für unsere Zeiten eines fortschreitenden Gletscherabbruchs vorstellen. Enzensbergers apokalyptische ‘Komödie’ ist in meinen Augen ein wirklich großes und zugleich erstaunlich zugängliches Werk der deutschen Nachkriegsliteratur, seine Dimensionen, Verweis- und Bedeutungsebenen sind so vielfältig wie seine Tonlagen und Stimmungen. Enzensberger nimmt uns mit nach Kuba, wo er noch in den 60er Jahren die erste Version fertiggestellt hatte, die dann auf dem Seeweg nach Paris verscholl. Er lädt uns ein ins Berlin der 70er Jahre mit seinen politischen Verwerfungen und Desillusionierungen, und natürlich verbringt er uns in den nächtlichen Nordatlantik im April 1912, wo wir sein literarisches Ich am Ende treibend zwischen den Koffern der Opfer zurücklassen werden. Dazwischen gibt es kurze Exkurse in eine teils fiktive Kunstgeschichte. Alles das bezeugt heute eine geradezu prophetische Qualität.

Hans Magnus Enzensberger im Jahr 2013
(Foto: Felix König / Wikimedia Commons)

Enzensberger, der im November 90 Jahre alt geworden ist, ist für mich und meine Generation wahrscheinlich der wichtigste intellektuelle Mentor der vergangenen Jahrzehnte gewesen, herausragend selbst gegenüber Altersgenossen wie Alexander Kluge oder Jürgen Habermas. Es ist kaum zu ermessen, was alles Enzensberger zu unserer intellektuellen Biographie beigetragen hat: Als wir anfingen, selbständig zu lesen, waren seine Gedichte bereits da, zeigten Haltung, Skepsis und Humor ohne den etwas ranzigen pädagogischen Habitus eines Bertolt Brecht. Außerdem hatte Enzensberger bereits 1957 mit seiner Kritik an der Sprache des SPIEGEL gewissermaßen die Blaupause für jede intelligente Medienkritik geliefert und uns mit der Nase auf die ‘Maschen’ des Medienbetriebs gestoßen. Es folgte die Gründung des Kursbuchs als Prototyp einer Publikation, die mit einer Mischung aus Literatur, Politik und Feuilleton auf höchstem Niveau einen ganz wesentlichen Beitrag zum Verständnis aktueller Entwicklungen lieferte.

Auschwitz, Beckett, Sartre – so ging es los mit dem Kursbuch

Das Kursbuch verweist bereits auf eine Rolle Enzensbergers, in der er vielleicht am meisten glänzte: Als genialer Kurator – nicht nur deutscher, nicht nur europäischer, sondern weltweiter sozialer und geistiger Prozesse. Das Museum der modernen Poesie, das er 1960 herausgab, ist nicht nur eine der interessantesten Sammlungen moderner Dichtung, es setzte auch damit Maßstäbe, dass es fremdsprachige Lyrik konsequent auch in der Originalsprache bereitstellt, und damit dazu einlädt, den miefigen Provinzialismus des deutschen Kulturbetriebs zu überwinden. Mit der Anderen Bibliothek widersetzte sich Enzensberger hartnäckig den Mechanismen des konventionellen, bestsellerorientierten Buchmarktes und öffnete unseren Blick für teils vergessene oder marginalisierte literarische Qualität, als früher Vorreiter der heute immer wieder propagierten ‘Slow Media’.

Enzensbergers typische Mischung aus unstillbarer Neugier, analytischem Scharfsinn und künstlerischer Fertigkeit hat mich über die Jahre immer und immer wieder bereichert. Ich erinnere mich, als ich 1986 zum erstenmal in Lissabon war, erschien just zu diesem Moment in der ZEIT Enzensberger großartiger Reiseessay über Portugal, und ich konnte ihn in einem Café am Rossio-Platz lesen. Schlagartig gewann alles um mich herum an Kontur, an historischer und kultureller Bedeutung. Im Gedächtnis geblieben sind mir zum Beispiel Enzensbergers Reflexionen über die kuriose Neigung der Portugiesen zum Paranormalen, zur Spökenkiekerei, die ich gleich anhand unzähliger einschlägiger Zeitschriftentitel an den Lissaboner Kiosken bestätigte.

Platz der Spione: Der Rossio in Lissabon (Foto: Ceinturion / Wikimedia Commons)

Nun ist er also alt geworden, der Meister. Eigentlich unvorstellbar. Kürzlich hörte ich ihn auf einer Autofahrt in einem Radiogespräch, ohne zunächst zu wissen, wer dort befragt wurde. Auch das war eine Lektion für mich, eine Gelegenheit, über die besondere Perspektive des hohen Alters nachzudenken, in der viele Dinge aus der Blütezeit des Erwachsenenlebens an Bedeutung verlieren, in den großen Schatten treten, der bald alles einnehmen wird. Scheinbar einfache Dinge, Beobachtungen oder unmittelbare Zusammenhänge werden wichtiger, größer. Gleichzeitig zeigt sich eine charakteristische, beinahe kindliche Einfalt. Als im Abspann klar wurde, wessen brüchige, aber weiterhin kluge, sympathische Stimme ich dort gehört hatte, sagte ich mir: So ist er denn schließlich auch dort angekommen. Danke für alles!

Jólabókaflóð

Weihnachten ist nicht nur in Island Lesezeit. Ich habe mir immer noch nicht abgewöhnen können, viel zu viele Bücher gleichzeitig zu lesen. Zurzeit sind es:

  1. Robert MacFarlane: The Old Ways – Eine Empfehlung meines lieben Kollegen und Experten für nature writing Torsten Schäfer. Zur Zeit meine Lieblingslektüre, ich folge den von MacFarlane beschriebenen alten Pfaden und menschlichen Begegnungen begeistert auch mit Hilfe von Quellen wie Google Maps, Google Picture Search und Wikipedia.
  2. Ursula LeGuin: Always Coming Home – LeGuins inspirierender utopischer Steinbruch über die Kesh, die irgendwann einmal im jetzigen Kalifornien leben werden und eine matrilineare, nichtexpansive, von klugen Kulten regulierte Lebensform vorstellen, sowie ihren Gegenentwurf, die patriarchalen, hierarchisch strukturierten und gewalttätigen Condor.
  3. Yochai Benkler: The Penguin and the Leviathan – Eine gute, handliche Übersicht über den Forschungsstand zu Egoismus vs. Kooperativität als Grundlagen intuitiven und rationalen Handelns.
  4. Ivan Krastev / Steven Holmes: Das Licht, das erlosch – Reflexionen über die Stimmungslage in den mitteleuropäischen Ländern, die mich bislang nicht wirklich überzeugen oder irgendwie voranbringen.
  5. Joachim Radkau: Geschichte der Zukunft – Amüsante, erhellende und teilweise ernüchternder Rückblick auf die Zukünfte der deutschen Nachkriegsgeschichte.
  6. Philip Pullman: The Book of Dust I: La Belle Sauvage – Das ist natürlich eigentlich die einzig richtige Weihnachtslektüre!
  7. The Penguin Book of Russian Poetry – Unfassbar, wie großartig diese russischen Gedichte selbst in englischer Übersetzung noch sind! Wie kann weltpolitische Rüpelhaftigkeit neben so einem geistigen Umfeld entstehen…?

Nur ein kleiner Teil der Bücher liegt hier tatsächlich in papiernen Kopien herum, die meisten lese ich auf dem Kindle oder in Libby, einer der Apps der Berliner Bücherhallen. Auf die physische Präsenz von Büchern mag ich weiterhin nicht verzichten, aber sie verliert immer mehr an Bedeutung.

Kurzer Rückblick auf 2019

Das war ein Jahr der Politisierung für mich. Im Sommersemester habe ich Seminare über Journalismus in Zeiten von Desinformation und Populismus angeboten. Ich habe mir – in Vorträgen und hier im Blog – darüber Gedanken gemacht, wie man den Journalismus diskursiv aufrüsten könnte. Im September bin ich Mitglied der Grünen geworden, bislang allerdings noch als Karteibaby ohne aktive Mitwirkung. Gleichzeitig habe ich mich bemüht, mich aus der chronischen Schockstarre im Angesicht meiner Twitter-Timeline, besonders zu Themen wie Putin, Trump, Brexit oder AfD, zu lösen.

Mein Weltbild ist insgesamt pessimistischer, misanthropischer geworden. Das soll mich aber nicht daran hindern, meine kleinen Beiträge dazu zu leisten, dass diejenigen, die jetzt in diese von Dummheit, Rücksichtslosigkeit und Gier dominierte Welt hinein aufwachsen, noch so etwas wie eine Zukunft vorfinden. Ein Leitmotiv für mich ist die Rückgewinnung politischer Handlungsfähigkeit gegenüber den angeblichen ökonomischen, gesellschaftlichen, evolutionären Sachzwängen.

Eine weitere Einsicht betrifft die immense Bedeutung und Tragweite des Feminismus und seiner assoziierten Bewegungen: Im Kern nicht nur der aktuellen reaktionären Ermächtigungswellen, die wir gerade an so vielen Orten erleben, sondern auch aller bestehenden toxischen gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen, findet man immer wieder eine durch nichts gerechtfertigte Anspruchshaltung meiner männlichen Geschlechtsgenossen. Es wird Zeit, dass wir uns zurücknehmen.

Die Macht des guten Arguments

In diesem Beitrag wird es um die Kraft guter Argumente im Journalismus gehen. Argumente kommen im vernünftigen Umgang von Personen miteinander vor allem dann ins Spiel, wenn es Unstimmigkeiten zwischen den Akteuren gibt. Sie können aber auch einfach das Verständnis für bestimmte Überzeugungen oder Handlungsoptionen vertiefen. Wie wir sehen werden, gibt es eine ganze Reihe von positiven Resultaten, die der Rückgriff auf Argumente in solchen Situationen haben kann.

Nicht immer lassen sich bestehende Unstimmigkeiten argumentativ ausräumen, aber in den meisten Fällen lernt man etwas bei dem Versuch, was alle Beteiligten voran bringen kann. Dies gilt insbesondere auch für den Journalismus, der ja unter anderem die Aufgabe hat, gesellschaftliche Konflikte möglichst rational zu rekonstruieren und somit zum kritischen Verständnis und zur Meinungsbildung in den beteiligten Öffentlichkeiten, sowie im besten Fall zu einer Lösung der Konflikte beizutragen.

Bei Wikipedia habe ich kürzlich noch die folgende Definition gefunden: Ein Argument sei “eine Abfolge von Aussagen, die aus einer oder mehreren Prämissen und einer Konklusion besteht”, und weiter: “Diese werden mit dem Anspruch vorgetragen, dass die Prämissen die Konklusion zwingend begründen oder stark nahelegen”. Dies geschehe “mit dem Ziel, eine Entscheidung über die Wahrheit einer Behauptung oder die Annahme eines Vorschlags zu finden”. (Mittlerweile wurde diese Definition überarbeitet und ist jetzt ein wenig zu kleinteilig, um sie hier zum Ausgangspunkt zu nehmen.)

Eine “Entscheidung über die Wahrheit einer Behauptung oder die Annahme eines Vorschlags” – hier kommt wieder die bereits in einem früheren Beitrag angesprochene Unterscheidung zwischen desktiptiven und normativen Aussagen zur Anwendung. Argumente umfassen beide Kategorien.

Wir können die oben zitierte Definition der Wikipedia vielleicht folgendermaßen für unsere Zwecke modifizieren: Ein Argument ist die Zusammenstellung eines deskriptiven oder normativen Claims (Konklusion) mit einer Reihe von deskriptiven oder normativen Gründen (Prämissen), die diesen Claim entweder stützen (im Grenzfall: beweisen) oder schwächen (im Grenzfall: widerlegen).

Man kann ein Argument auf zwei Weisen kritisieren:

  1. Man bestreitet die Wahrheit (im deskriptiven Fall) oder Geltung (im normativen Fall) der Gründe;
  2. Man bestreitet den stützenden / schwächenden Zusammenhang zwischen Claim und Gründen.
Mit Argument Mapping lassen sich stützende und schwächende Gründe veranschaulichen.

Beginnen wir mit einem einfachen Beispiel, das dies verdeutlicht. In den USA diskutieren eine Befürworterin und ein Gegner von Donald Trumps Mauer-Projekt an der mexikanischen Grenze miteinander. Die Befürworterin argumentiert folgendermaßen:

  • (Konklusion) Die Mauer muss her,
  • (Prämisse 1) denn die Zahl der Latino-Einwanderer muss beschränkt werden
  • (Prämisse 2) und die Mauer würde die Zahl der Latino-Einwanderer massiv beschränken.

Wir stellen fest, dass dieses Argument eine normative Behauptung (“Die Mauer muss her”), die das Argumentationsziel darstellt, mit einer weiteren normativen Behauptung (“Die Zahl der Latino-Einwanderer muss beschränkt werden”) und einer deskriptiven Behauptung (“Die Mauer würde die Zahl der Latino-Einwanderer massiv beschränken”) begründet. Das Argument entspricht in etwa dem, was in der aristotelischen Tradition als ‘praktischer Syllogismus’ bezeichnet wird.

Der Gegner des Mauerprojekts hätte jetzt – siehe oben – zwei Wege, wie er dieses Argument entkräften könnte:

  1. Er könnte die Wahrheit mindestens einer der Prämissen in Frage stellen;
  2. Er könnte die Wahrheit der Prämissen einräumen, aber bestreiten, dass die Prämissen die Konklusion wirklich stützen.

Für den ersten Weg könnte er beispielsweise darauf hinweisen, dass die meisten Latino-Einwanderer nicht auf illegalem Weg über die ungeschützte Grenze in die USA gelangen und damit die Wahrheit von Prämisse (2) bestreiten. Für den zweiten Weg könnte er zum Beispiel argumentieren, dass der Bau der Mauer mit so vielen versteckten Nachteilen verbunden ist (finanzielle Kosten, Verschlechterung der Beziehungen zum Nachbarland, ökologische Schäden, etc.), dass diese den ‘Vorteil’ einer massiven Beschränkung der Zuwanderung wieder wettmachen würden.

Aber nicht immer kann man natürlich gleich ‘besseres Wissen’ ins Spiel bringen, und so kann es auch eine vernünftige Strategie sein, bei der Gesprächspartnerin nachzuhaken, und sie aufzufordern, ihre Prämissen weiter zu erläutern, beispielsweise indem man nach Gründen für ihre Gründe fragt: “Aber warum glauben/finden Sie, dass…”.

“Warum”, so könnte eine solche Frage lauten, “sind Sie denn der Meinung, dass die Zahl der Latino-Einwanderer beschränkt werden sollte?” Nehmen wir einmal an, dass unsere Trump-Freundin antwortet: “Mich beunruhigt die Gewalt in unseren Städten, die muss ein Ende haben. Und die Latinos sind für diese Gewalt verantwortlich!”

Jetzt haben wir die (normative) Prämisse “Die Zahl der Latino-Zuwanderer muss beschränkt werden” selbst zur Konklusion eines Arguments gemacht, und zwei weitere Prämissen der Akteurin identifiziert:

  1. Die Gewalt in den Städten muss ein Ende haben.
  2. Weniger Latinos würden die Gewalt in den Städten beenden.

Und hier besteht realistischerweise die Chance, dass der Trump-Gegner zum erstenmal seiner Kontrahentin in Teilen zustimmen kann: Auch er, so können wir annehmen, hält die Gewalt in den amerikanischen Städten für ein Problem, das gelöst werden muss. Er könnte jetzt folgendermaßen argumentieren: “Da sind wir ganz beieinander. Auch ich bin der Meinung, dass wir das Problem der Gewalt in den Städten lösen müssen. Allerdings glaube ich nicht, dass dafür die Latinos verantwortlich sind. Es gibt empirische Studien, die zeigen, dass Gewalt in den Städten nicht primär ethnische Ursachen hat. Viel besser wäre es, mit einer strengeren Waffengesetzgebung und sozialen Maßnahmen wie z.B. höheren Mindestlöhnen der Gewalt zu begegnen.” Die Argumentationslast zwischen den Kontrahenten hätte sich jetzt auf die Verteidigung oder Abwägung deskriptiver Prämissen verschoben.

Somit wird auch sichtbar, welche Ziele der argumentative Diskurs haben kann:

  • Er kann strittige deskriptiven Prämissen identifizieren, um sie einer sachlichen Klärung zuzuführen;
  • Er kann von den Kontrahenten geteilte normative und deskriptive Prämissen (z.B. geteilte Werte) identifizieren und somit eine Kompromissfindung erleichtern;
  • Er kann außerdem einen nicht auf den ersten Blick sichtbaren zugrundeliegenden Dissens in grundlegenden Präferenzen oder Werten identifizieren, der entweder ausräumbar oder nicht ausräumbar ist. Dazu später mehr.

Was für eine Funktion haben Argumente nun im Journalismus? Zum einen sind die sogenannten ‘meinungsbasierten’ Formate, über die ich bereits in einem anderen Beitrag nachgedacht hatte, idealerweise argumentativ aufgebaut. Das heißt, in einem Kommentar oder Leitartikel sollte die Verfasserin nicht einfach von sich geben, was sie gut findet, und sich ggf. von anderen Positionen abgrenzen. Es kommt auch darauf an, die vertretenen Positionen zu begründen, und sich damit im argumentativen Raum im Vergleich zu anderen Akteuren zu verorten. (Wir haben allerdings in der Textausbildung mit den Studierenden gemeinsam viele Kommentare deutscher journalistischer Medien gelesen und studiert, und wir waren überrascht, wie oft diese elementare Regel nicht befolgt wird.)

Aber auch in Analysen spielt die Betrachtung von Argumenten eine wesentliche Rolle. Politik basiert eigentlich immer auf Interessenkonflikten. Wenn wir in unseren Analysen die verschiedenen Akteure oder Akteursgruppen mit ihren Interessen und Positionen identifiziert haben, ist keineswegs immer auf den ersten Blick klar, warum sie diese Positionen vertreten. Nehmen wir das Beispiel Brexit. Sowohl die Konservativen als auch die Führung der Labour-Partei haben in den letzten Wochen anti-europäische Positionen vertreten und auf die eine oder andere Weise auf einen Brexit hingearbeitet. Es ist offenkundig, dass sie dafür ganz unterschiedliche Gründe hatten. Der Dissens, der uns hier interessieren wird, liegt nicht auf der Ebene der Positionen, sondern auf der Ebene der dahinter liegenden Begründungen.

Es kommt hinzu, dass die wirklichen Gründe nicht immer mit den nach außen vertretenen Gründen übereinstimmen. Eine gründliche journalistische Aufarbeitung muss hier alle Mittel auch investigativer Recherche in Anschlag bringen, um die tatsächlich handlungsrelevanten Gründe zu identifizieren. Das ist nicht nur für ein Verständnis der politischen Lage notwendig, es zeigt darüber hinaus auch potentielle Lösungswege auf.

Nicht immer lassen sich natürlich Konflikte auf argumentativem Weg beilegen. In vielen Fällen liegen dem vermeintlichen Dissens in der Sache einfach konfligierende Machtansprüche zugrunde. Oder er lässt sich zurückführen auf grundlegende Wertedifferenzen. So lassen sich rivalisierende liberale, konservative oder soziale politische Positionen in vielen Fällen auf eine unterschiedliche Gewichtung der Werte Freiheit, Sicherheit/Stabilität und Gerechtigkeit/Gleichheit zurückführen. (Vielleicht ist diese Aussage aber auch selbst irreführend und ideologisch. Zumindest in jüngster Zeit vermitteln einzelne konservative Parteien eher den Eindruck, die Hazardeure der Politik, und nicht die Verfechter von Stabilität und Sicherheit zu sein.)

In jedem Fall beruht schon die Annahme, dass sich Politik zumindest zum Teil als ein Wettstreit von Argumenten verstehen lässt, auf einem zutiefst republikanischen Verständnis des politischen Raumes: Konflikte sollten nicht einfach dem freien Spiel der Kräfte überlassen, sondern zuvor öffentlich ausgehandelt werden, nicht nur mit einem sportlichen Verständnis von Regelkonformität oder Fairness, sondern aus der tiefen Einsicht, dass die Würdigung des besseren Arguments die Chance auch einer besseren Konfliktlösung beinhaltet, von der alle Seiten profitieren.

Eine Politik, in der Gründe und Argumente zählen, ist dem schieren Machtkampf ebenso überlegen, wie ein Journalismus, der diese Gründe und Argumente aufdeckt und rekonstruiert, einer bloß beschreibenden Abbildung solcher Machtkämpfe im öffentlichen Raum.

Analyse als Werkzeug journalistischer Arbeit

Die Welt, wie sie uns begegnet, ist groß, bunt und chaotisch. Eine Aufgabe des Journalismus, so heißt es, sei die Komplexitätsreduktion. Im vorigen Beitrag haben wir eine Form solcher Komplexitätsreduktion diskutiert: das Storytelling. Das Erzählen von Geschichten zur Veranschaulichung größerer Zusammenhänge, so haben wir dort gesehen, ist nicht ganz frei von Risiken. 

Der US-amerikanische Ökonom Tyler Cowen hat in einem TED-Talk noch auf eine weitere Schwäche des Storytellings hingewiesen: Seiner Meinung machen es sich die meisten Storys zu einfach, sie treiben das Geschäft der Komplexitätsreduktion zu weit. Die einfachen Heldenreisen, Bekehrungsgeschichten etc. mit ihren kathartischen Auflösungen werden als Deutungsraster unserer komplexen Wirklichkeit nicht gerecht.

Kommen wir (auch) deshalb zu einer anderen Erkenntnistechnik, die sich enger an das Gefüge der Welt anlehnt und einen zugleich erwachseneren aber leider auch trockeneren Zugang zu komplexen Gemengelagen ermöglicht: zur Analyse.

Eine Analyse, so sagt uns Wikipedia “ist eine systematische Untersuchung, bei der das untersuchte Objekt oder Subjekt in Bestandteile (Elemente) zerlegt und [diese] auf Grundlage von Kriterien erfasst werden. Anschließend werden [sie] geordnet, untersucht und ausgewertet. Insbesondere betrachtet man Beziehungen und Wirkungen (oft: Wechselwirkungen) zwischen den Elementen.”

Es ist sicher sinnvoll, den Begriff der Analyse selbst noch ein bisschen zu analysieren und ihn weiter zu differenzieren nach seinen Anwendungsfeldern: Man kann ihn beispielsweise – wie wir es gerade tun – anwenden auf Begriffe. Begriffsanalyse ist ein Kernbereich der Philosophie, zum Beispiel wenn Plato seinen Sokrates mit einem Schüler den Begriff des Wissens diskutieren lässt. Im Idealfall besteht das Resultat in einer Art Definition, in der Angabe notwendiger und hinreichender Bedingungen zur Anwendung des Begriffs, und der Prozess der Klärung dieser Bedingungen trägt zu unserem Verständnis des Begriffs bei.

Ein anderer Anwendungsbereich für Analysen sind komplexe Phänomene in der Welt. Hier geht es – anders als bei der Begriffsanalyse – nicht um abstrakte oder logische Zusammenhänge, sondern um Aspekte konkreter, vorgefundener Wirklichkeit, beispielsweise komplexe gesellschaftliche Strukturen und Prozesse.

Nehmen wir zum Beispiel das vielfach diskutierte, aber weitgehend unzureichend verstandene Thema Digitalisierung. Was genau ist Digitalisierung? Beginnen wir mit einer Begriffsanalyse. Was wir eben – ein bisschen selbstreferentiell – auch mit dem Begriff der Analyse selbst gemacht haben, können wir auch hier tun: nach möglichen verschiedenen Anwendungsbereichen des zu untersuchenden Begriffs fragen. Was sind typische Anwendungsfälle, was würden wir als Digitalisierung bezeichnen? 

Es fällt auf, dass wir es auch hier mit (mindestens) zwei sehr unterschiedliche Anwendungsfeldern zu tun haben:

  1. Da ist zum einen Digitalisierung als simpler Transfer ursprünglich analog verfasster Medien in ein digitales Format. Zum Beispiel die Übertragung alter VHS-Videokassetten in binäre Videoformate, die Digitalisierung alter Fotos und Schallplatten, oder die Anstrengungen von Google, Bücher zu scannen und in digitalen Dateiformaten zu archivieren und vorzuhalten. Auch der Transfer von papiernen Akten in digitale Datensätze gehört in diese Kategorie.
  2. An diese Verwendung anknüpfend, aber weit darüber hinausgehend, gibt es eine abgeleitete Anwendung des Digitalisierungsbegriffs auf umfassende technologische und gesellschaftliche Transformationsprozesse, die durch die breite Anwendung digitaler Informationstechnologien möglich geworden sind: Grundlegende Änderungen in der Kommunikation, in der Bildung, in der Verwaltung, in der industriellen Produktion etc.

Interessanterweise wird hier im angelsächsischen Sprachraum offenbar deutlicher unterschieden. Wo die deutsche Wikipedia nur ein Stichwort anbietet, das beide Verwendungen des Begriffs umfasst (Digitalisierung), hat die englischsprachige derer zwei (Digitization und Digital Transformation).

Wenn wir nun von der (eher linguistischen oder philosophischen) Begriffsanalyse zur Analyse der von den unterschiedlichen Facetten des Begriffs Digitalisierung erfassten Phänomene selbst kommen, so wird deutlich, dass wir es entsprechend der unterschiedlichen Anwendungsfelder auch mit unterschiedlichen zuständigen Wissenschaftsdisziplinen zu tun haben: Für den Aspekt der Digitalisierung von Einzelmedien sind eher Elektroniker oder Informatiker zuständig, während für die Digitale Transformation nicht nur die Ingenieursdisziplinen, sondern auch Bereiche der Soziologie (Techniksoziologie, Technikfolgenabschätzung, Soziologie der Arbeitswelt etc.), Kommunikationsforschung, Managementtheorie, Politik etc zuständig sind. Eine umfassende Analyse der digitalen Transformation unserer Gesellschaft erweist sich somit als ein multi- oder interdisziplinäres Unterfangen größeren Ausmaßes. 

Treten wir nun einen Schritt zurück und verlassen das Beispiel Digitalisierung. Worin bestehen – allgemein gesprochen – Analysen eines komplexen und prima facie chaotischen Phänomens? Ich würde insgesamt drei Schritte unterscheiden:

  1. Der erste Schritt besteht – wie wir gerade gesehen haben – in einer Begriffsklärung. Die für das Phänomen einschlägigen Begriffe sollten betrachtet und auf ihre potentiellen Anwendungsfelder und tatsächlichen Anwendungsbedingungen untersucht werden. Nicht immer können wir hoffen, zu einer strengen Definition unter Angabe notwendiger und hinreichender Bedingungen zu gelangen (X ist ein F, genau dann wenn [erstens], [zweitens], [drittens],…). Aber auf dem Weg dahin gelangen wir zu einem besseren Verständnis unseres Begriffsrepertoires und vermeiden damit Konfusionen, die z.B. durch Mehrdeutigkeiten entstehen können.
  2. Der zweite Schritt besteht in der Identifikation von für das Phänomen relevanten Bestandteilen oder Akteuren, gewissermaßen der Komponenten, aus denen sich unsere komplexe Gemengelage zusammensetzt. Im Falle der Digitalen Transformation wären dies zum Beispiel sowohl Akteursgruppen (Wissenschaft, Industrie, Politik, Zivilgesellschaft,…) als auch einzelne Technologien und ihre Ausprägungen (Algorithmen, Mobile Endgeräte, Sensoren, Big Data, Künstliche Intelligenz, Internet of Things, …).
  3. Im dritten Schritt schließlich untersuchen wir Eigenschaften, Beziehungen und Zusammenhänge dieser Komponenten in statischer und dynamischer Betrachtung. Wir stellen im Zusammenhang mit der Digitalen Transformation etwa fest, dass mobile Endgeräte zunehmend zu multimodalen Sensoren werden, die im Sinne von Big Data in der Lage sind, massenhaft Gesundheitsdaten ihrer Nutzer zu erfassen und zusammenzuführen, was wiederum mit Hilfe von Algorithmen und Techniken der künstlichen Intelligenz massive Auswirkungen auf das Gesundheitssystem einer Gesellschaft haben kann und wird.

Analysen liefern uns, so betrachtet, Modelle der Wirklichkeit, die nach Möglichkeit wohlgeordnet und nachvollziehbar sind. Sie sind gleichzeitig eine sinnvolle Form der Komplexitätsreduktion.  Sie reduzieren Komplexität, indem sie bestimmte, irrelevante Aspekte ausklammern, die unserem Verständnis nicht dienlich wären oder sogar im Wege stehen könnten. Sie können uns aber auch Wissenslücken aufzeigen, die wir durch weitere Recherche oder Forschung beheben sollten.

Welchen Gebrauch können wir im Journalismus von diesem Werkzeug machen? Als eigenständige journalistische Form sind Analysen meist zu umfangreich und trocken, aber als Leitprinzip für die Recherche und Erschließung eines Themenfeldes taugen sie ebenso wie als Strukturierungshilfe für ein strategisches Themenmanagement. Insofern sollten sich alle angehenden und praktizierenden Journalist*innen ein solides analytisches Instrumentarium zulegen.

Anschaulichkeit, Storys, Relotius

  »Nun aber haben Guido, Özlem und ich Deinen Text gelesen und sind uns einig, dass Dir damit ein ganz starkes Stück gelungen ist. Du hast einen wesentlichen Teil der amerikanischen Gesellschaft unters Mikroskop gelegt und mit leisen Tönen einen Text geschrieben, der einem endlich klarmacht, was da los ist.«

Matthias Geyer an Claas Relotius über dessen Reportage “In einer kleinen Stadt”

Gekonntes Storytelling ist ein mächtiges Instrument. Zu Recht werden kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse herangezogen, um die Macht der Anschaulichkeit für unser Weltverständnis zu belegen. Anhand von Storys lernen wir wie Kinder, und das heißt: schnell und nachhaltig. 

Gleichzeitig ist es jedoch genau diese Stärke des Storytelling, die auch seinen größten und gefährlichsten Nachteil markiert. Nicht umsonst haben wir uns einzel- und stammesgeschichtlich mühsam aus der Kindheit ins Erwachsenenalter hervorgearbeitet. Denn das Lernen am anschaulichen Beispiel kann das eigenständige Erfassen komplexerer und abstrakterer Zusammenhänge leider nicht ersetzen. Und mit Storys können wir ebenso leicht manipulieren wie aufklären.

Meine Kollegin Silke Heimes hat in einem Forschungsprojekt die Baumuster erfolgreicher Erzählstrategien untersucht, und sie hat sich dazu sowohl fiktionale Kurzgeschichten als auch journalistische Reportagen angeschaut. Einer ihrer Befunde: die Erfolgskriterien für eine ‘gut geschriebene’ Story sind in beiden Fällen dieselben. 

Für die journalistische Reportage erwarten wir jedoch, dass sie – im Gegensatz zur fiktionalen Kurzgeschichte – wahr ist. Hier, an der Spannung zwischen Wahrheitsanspruch und schriftstellerischen Erfolgskriterien, setzen die Fälschungsskandale der letzten Zeit an: Janet Cooke (1981), Michael Born (1996), Stephen Glass (1998), Tom Kummer (2000), Jayson Blair (2003), und jetzt Claas Relotius (2018) – die Reihe derer ist lang, die im Journalismus den Wahrheitsmaßstab für eine ‘gute’ Geschichte geopfert haben. 

Doch das Problem mit dem journalistischen Storytelling liegt nicht nur in den Erfolgskriterien Aufbau, Personal, Dramaturgie, und der Versuchung um ihretwillen zu schummeln. Es liegt auch darin, dass journalistische ebenso wie fiktionale Storys eine wesentliche Bedeutungsebene haben, die über die strikten Wahrheitsbedingungen der in ihnen aufgestellten Tatsachenbehauptungen hinausgeht. Schauen wir uns dafür ein einfaches Schaubild an: 

Die Story beschreibt einen tatsächlichen oder erfundenen Weltausschnitt. Ob tatsächlich oder erfunden, darin unterscheiden sich Journalismus und Fiktion. Beide jedoch beanspruchen im Normalfall, dass dieser beschriebene Weltausschnitt in irgendeiner Weise beispielhaft für ein größeres Ganzes steht. Genau diese Beziehung ist es, die gemäß dem oben angeführten Zitat von Matthias Geyer die Leitung des SPIEGEL-Gesellschaftsressorts an Claas Relotius’ Reportage “In einer kleinen Stadt” bewundert hat: Er habe “einen wesentlichen Teil der amerikanischen Gesellschaft unters Mikroskop gelegt” und damit “endlich klar[ge]macht, was da [in der amerikanischen Gesellschaft] los ist”. So, über die Bedeutungsebene der Exemplifikation, erzählen uns die meisten Reportagen etwas über die Welt, und genau so verhält es sich auch bei Kurzgeschichten. 

Die Gefahr liegt nun in der Tatsache, dass man mit einer Story über diese Exemplifikationsbeziehung nahezu jede These über eine Gesellschaft, über ein größeres Ganzes untermauern kann. Denn es wird sich immer ein passender Weltausschnitt finden, den man als beispielhaft ausgeben kann. Hat man diesen identifiziert, dann ist es nur noch eine Frage der handwerklichen Durchführung, wie glaubhaft das Ganze wirkt.

Insofern ist das zentrale Problem nicht unbedingt, ob die Reportagen von Relotius und Konsorten buchstäblich wahr oder erfunden sind. Es besteht eher darin, dass bislang kein journalistisches Fact Checking der Welt diese Exemplifikationsbeziehung überprüft und nachschaut, ob es sich denn in dem implizit angepeilten größeren Ganzen tatsächlich überwiegend so verhält, wie in der Story. Ob zum Beispiel die USA wirklich so sind, wie es von der erfundenen oder wirklichen Kleinstadt Fergus Falls berichtet wird.

Vor diesem Hintergrund bekommt der Relotius-Skandal noch eine weitere Dimension, die über die kriminellen Fabrikationen seines Protagonisten hinausgeht. Ohne den Skandal und die dadurch erzwungene gründliche Aufklärung durch die Kommission wäre es vermutlich kaum jemandem aufgefallen, dass viele SPIEGEL-Reportagen sozusagen deduktiv angelegt waren. Das heißt: Statt aus dem konkreten Einzelfall Erkenntnisse zu gewinnen, waren sie im Hinblick auf ein vorgegebenes Argumentationsziel konzipiert und gecastet. Das Potential für eine Irreführung des Publikums ist groß, und die Gefahr bislang weitgehend unreflektiert.

Nun will ich natürlich nicht für eine Abschaffung der Reportage als journalistischer Form plädieren. Im Gegenteil, ich denke, wir können und sollten uns den Verführungswert der Anschaulichkeit durchaus zunutze machen. Aber wir müssen als Journalisten lernen, davon einen bewussteren und redlicheren Umgang zu machen. Dort, wo wir eine Geschichte mit dem Anspruch auf Beispielhaftigkeit erzählen, müssen wir diesen Anspruch, möglichst im selben Stück, belegen, müssen die implizite Exemplifikationsthese mit Zahlen und harten Fakten untermauern. Story, Daten und Analysen sind keine zu trennenden Welten, sie gehören direkt zusammen. 

Und natürlich wird es weiterhin auch Geschichten über den Ausnahmefall, das Besondere und Untypische geben. Aber auch das sollte genau in diesem Sinne transparent gemacht werden: So wie in dieser Geschichte geht es sonst nirgends zu.

Meinungen vs. Fakten

Für die weiteren Überlegungen möchte ich zunächst versuchen, eine größere Unklarheit zu beseitigen, die viele Menschen verwirrt. Es geht um den Unterschied zwischen faktenbasiertem und meinungsbasiertem Journalismus. Ich glaube, wir haben es hier nicht mit nur einem Unterschied zu tun, sondern mit zwei Unterschieden. Das liegt, wie ich zeigen werde, an einer subtilen Zweideutigkeit des Begriffes “Meinung”. Beide Lesarten dieses Begriffs und die darauf basierenden Unterscheidungen sind darüber hinaus für unsere weiteren Überlegungen außerordentlich wichtig.

Beginnen wir mit ein bisschen Lehrbuchwissen: Im Journalismus unterscheiden wir zwischen informierenden Darstellungsformen, wie der Nachricht, und meinungsäußernden Darstellungsformen, wie dem Kommentar.

Das ist schon auf den ersten Blick etwas irreführend, denn natürlich informiert uns auch die Lektüre eines Kommentars, nämlich über die Meinung der Kommentator*in. Gemeint ist also eher, dass es in der Nachricht um Fakten in der Welt, unabhängig von der Psyche von Journalist*innen geht, während der Kommentar uns darüber Auskunft geben soll, zu welcher Meinung oder Überzeugung die Kommentator*in nach Abwägung aller bekannten Argumente gekommen ist.

Wenn wir noch etwas genauer hinsehen, werden wir jedoch feststellen, dass auch diese Darstellung die Sache nicht wirklich trift, dass noch etwas anderes hier eine Rolle spielt. Denn die Kommentator*in wird in ihrem Kommentar – sagen wir zum Rücktritt Theresa Mays – nicht kundtun wollen, dass sie nach langer und reiflicher Überlegung zu der Überzeugung gelangt ist, dass Theresa May wirklich zurückgetreten ist. Das ist eher eine Situation, in der sich Nachrichtenredakteure zum Beispiel in unübersichtlichen Nachrichtenlagen wiederfinden, wenn sie für eine Nachricht erst eine einzige, und möglicherweise nicht 100%ig verlässliche Quelle haben, und dann nach und nach weitere Bestätigungen eintrudeln. Erst dann, so gebietet es die Sorgfaltspflicht, sollte die Meldung an die Öffentlichkeit gebracht werden.

Nein, die Meinung, die im Kommentar zu Theresa Mays Rücktritt zum Ausdruck gebracht wird, wird eher zum Inhalt haben, wie die Kommentator*in diesen Rücktritt findet: ob es eine gute oder eine schlechte, eine rechtzeitige oder überfällige Aktion war. Mit anderen Worten, es handelt sich um eine Meinung wertenden Inhalts, nicht darüber wie die Welt faktisch ist, sondern darüber wie sie sein sollte:

  • Wenn Theresa May zum richtigen Zeitpunkt getan hat, was sie hätte tun sollen, dann war es eine gute Entscheidung.
  • Wenn Sie hingegen den Zeitpunkt verpasst oder etwas getan hat, was sie nicht hätte tun sollen, dann war es eine schlechte Entscheidung.

In verschiedenen philosophischen Disziplinen wird die Unterscheidung zwischen deskriptiven und normativen Überzeugungsinhalten oder Aussagen getroffen. Diese können wir uns hier zu eigen machen und sagen: Bei den informierenden (faktenbasierten) Darstellungsformen geht es eher um deskriptive Inhalte, in denen beschrieben wird, was sich auf der Welt de facto zugetragen hat. In den meinungsäußernden (meinungsbasierten) Darstellungformaten geht es eher um normative Inhalte, also darum, wie nach Meinung der Verfasser ein Geschehen bewertet werden sollte.

Bevor wir mit der zweiten Lesart der Unterscheidung von fakten- vs. meinungsbasiertem Journalismus weitermachen, sollte ich noch erwähnen, dass die Geltung von deskriptiven Aussagen oder Meinungsinhalten etwas Objektives ist: Sie sind entweder wahr oder falsch, und welches davon, darüber entscheidet eindeutig die Beschaffenheit der Welt, nicht das Denken und Urteilen der Journalist*in über die Welt. “Da gibt es keine zwei Meinungen”, wie die Alltagsphilosophie weiß. Wenn ich die Entfernung zum Bahnhof unterschätze, verpasse ich den Zug. So einfach ist das.

Wertende Aussagen hingegen haben immer wieder den Ruch der Subjektivität, und die Ethiker und Moralphilosophen tun sich schwer damit, die allgemeine Verbindlichkeit gewisser Regeln (moralischer Normen im eigentlichen Sinn) nachzuweisen, die dem subjektiv als “gut” Empfundenen (unseren persönlichen Wünschen) oder dem intersubjektiven gesellschaftlichen Konsens objektiv nachvollziehbare Grenzen setzen.

Kommen wir – wie versprochen – zur zweiten Lesart unserer Unterscheidung. Dazu sollten wir zunächst einen Ausflug in die Philosophiegeschichte unternehmen. In seinem Dialog Theaitetos lässt Platon die Gesprächspartner den Begriff des Wissens diskutieren. Die Definition, der sich die Diskussion dabei am Ende annähert, steht im Kern so immer noch in den Lehrbüchern: Wissen ist wahre, gerechtfertigte Meinung. Dahinter verbergen sich drei Bedingungen, die jede für sich notwendig, und zusammen genommen hinreichend für Wissen sind, in der folgenden Form:

X weiß dass p genau dann, wenn

  1. X glaubt dass p (Meinung)
  2. X ist in ihrem/seinem Glauben, dass p, mit guten Gründen gerechtfertigt (Rechtfertigung)
  3. es ist tatsächlich wahr, dass p (Wahrheit)

Betrachten wir eine Journalistin Nora (sie ist unsere Person ‘X’), die gerade auf ihrer Nachrichtenwebsite gemeldet hat, dass Theresa May zurückgetreten ist (der Rücktritt ist unser ‘dass p’). Nora sollte dies natürlich nur tun, wenn sie weiß, dass Theresa May zurückgetreten ist.

Dass sie dies wirklich weiß, wiederum, würden wir von ihr nicht behaupten, (1) wenn sie gar nicht erst glauben würde, dass der Rücktritt tatsächlich stattgefunden hat. (Man beachte, dass es sich hier um eine Meinung deskriptiven Inhalts handelt.) Nora kann nichts wissen, das sie für falsch hält oder zu dem sie keine Meinung hat. Das leuchtet unmittelbar ein, oder?

Aber wir würden ihr auch dann kein Wissen über Theresa Mays Rücktritt zuschreiben, (2) wenn sie für ihre Meinung keine guten Gründe angeben könnte. Wenn sie etwa sagen würde: “Hab ich irgendwo gehört” oder: “Mein Bauch sagt mir, dass es heute so weit ist”, dann würden wir vielleicht erwidern: “Glück gehabt!” oder: “Gut geraten!”, aber wir würden nicht sagen: “Nora weiß, dass Theresa May zurückgetreten ist.”

Und schließlich, und das ist ebenso wichtig wie trivial, würden wir Noras Wissen um Theresa Mays Rücktritt bestreiten, (3) wenn der Rücktritt von Theresa May gar nicht stattgefunden hätte. Sie kann noch so intensiv glauben, dass es passiert ist, kann noch so solide Gründe für ihre Meinung anführen (“Es wurde von BBC und drei internationalen Nachrichtenagenturen gemeldet”, “Ich habe gerade Jeremy Corbyn im Fernsehen gesehen, wie er den Rücktritt begrüßt”, etc.), wenn Theresa May nicht zurückgetreten ist, kann Nora auch nicht wissen, dass dies passiert ist.

Hier haben wir nun die Grundlagen für meine zweite Lesart der Unterscheidung von faktenbasiertem vs. meinungsbasiertem Journalismus. Faktenbasiert, so lese ich diesen Begriff hier, ist ein Journalismus erst, wenn er nicht auf bloßen Meinungen (Bauchgefühl, irgendwo gehört,…) basiert. Und das ist nur dann der Fall, wenn erstens das wirklich der Fall ist, was er beschreibt (Wahrheit) und zweitens die Journalisten in ihrer Recherche genug gute Gründe angehäuft haben, die sie darin stützen, dass sie mit ihrer Darstellung des Geschehens an die Öffentlichkeit gehen (Rechtfertigung). Erst durch diese Evidenz wird gewährleistet, dass es wirklich die Fakten sind, über die berichtet wird, die gewährleisten, dass über sie berichtet wird, und nicht irgendein Bauchgefühl oder ungeprüftes Hörensagen.   

Fassen wir zusammen:

Wenn wir von einem meinungsbasierten Journalismus sprechen, können wir damit zweierlei meinen:

(M1) einen Journalismus, der ein Weltgeschehen bewertet

(M2) einen Journalismus, der sich auf bloßes Meinen stützt, das nicht die Bedingungen des Wissens erfüllt

Wenn wir hingegen von einem faktenbasierten Journalismus sprechen, können wir ebenfalls zweierlei meinen:

(F1) einen Journalismus, der rein deskriptiv ist und sich einer Wertung enthält

(F2) einen Journalismus, der – wie es in anderem Zusammenhang genannt wird – evidenzbasiert ist, also mittels sorgfältiger Recherche für eine Rechtfertigung seiner Aussagen Sorge trägt

Lesart 1Lesart 2
(M) meinungsbasierter Journalismus(be)wertend /
normativ
deskriptiv, aber mangelhaft
gerechtfertigt
(F) faktenbasierter Journalismusbeschreibend /
deskriptiv
deskriptiv, und hinreichend
gerechtfertigt /
evidenzbasiert

Kommen wir abschließend zu einer (vorläufigen) Bewertung dieser vier Varianten. Es ist zunächst klar, dass an (F1) wenig auszusetzen ist: Das nüchterne, wertungsfreie Beschreiben der Welt gehört eindeutig zu den journalistischen Kernaufgaben – das heißt, solange der so beschriebene Journalismus nicht auch unter die Kategorie (M2) fällt, denn (M2), darüber können wir uns auch schnell verständigen, ist schlechter Journalismus. Ebenso sicher können wir sein, dass (F2) einen wünschenswerten, guten Journalismus beschreibt. (M2) und (F2) sind also selbst normative Begriffe.

Interessant und schwieriger einzuordnen ist (M1): Darf Journalismus werten? Es scheint Konsens zu sein, dass dies im wohlumrissenen Rahmen der Meinungsseiten in Ordnung und sogar wünschenswert ist. Gleichzeitig soll aber der Ruch einer ‘bloß subjektiven’ Wertung gemäß den nur persönlichen Neigungen der Kommentator*innen vermieden werden. Was es damit auf sich hat, und wie das zu leisten ist, damit werde ich mich in einem der folgenden Beiträge auseinandersetzen, wenn es um die Bedeutung von Argumenten im Journalismus gehen wird.