Stop and go!

Der demokratische US-Präsidentschaftskandidat Pete Buttigieg hat sich gestern in einer Townhall auf Fox News zu Donald Trump geäußert: 

    It’s in the nature of grotesque things that you can’t look away.

Was natürlich nicht nur auf Trump zutrifft, sondern auf den ganzen kollektiven Schwachsinn der jüngsten Zeit, gerade zum Beispiel auf die aktuellen Europawahlprognosen aus Wales oder den Niederlanden. Das Groteske ist Zeitgeist geworden. Damit kann man viel nutzlose Zeit verbringen.

Folgen wir also Mayor Buttigiegs anschließenden Ratschlag und kümmern uns künftig mehr um konstruktive Inhalte, statt auf die destruktiven Spektakel zu starren. Und im Sinne des ‘therapeutischen’ stoischen Ansatzes aus dem letzten Beitrag beginne ich mit ein paar Leitfragen zur eigenen Rolle, denen ich in kommenden Beiträgen nachgehen möchte: 

Erstens: Wie sicher bin ich mir meiner Werte und Positionen? Wie würde ich diese priorisieren? Was habe ich argumentativ beizusteuern, um meine Positionen auch öffentlich zu vertreten?

Zweitens: Welche publizistischen Formate sind am besten geeignet, meinen Positionen Geltung zu verschaffen? Wie kann ich mich publizistisch besser vernetzen und welche Arten der öffentlichen Debatte sollte ich suchen?

Drittens: Ist es sinnvoll, einer Organisation beizutreten? Wenn ja: Welche Organisationsformen bieten sich an? Parteien, Gewerkschaften, Bewegungen?

Das Ende der Gelassenheit?

Manchmal kreuzen sich ganz zufällig verschiedene Sinnlinien und ergeben für einen Moment eine plastische Gestalt. So ging es mir in den letzten Tagen mit dem aktuellen Erscheinungsbild der stoischen Philosophie.

Ich hatte gerade in meinem Ebook-Archiv ein bisschen Marc Aurel und Epiktet, sowie die stoischen Lebensratschläge des britischen Romanciers Arnold Bennett gelesen, als ich auf Youtube auf ein mehr als 30 Jahre altes Video mit der US-amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum stieß. Darin ging es darum, wie man antike Autoren zum Gespräch in die Gegenwart holen kann: Die griechischen Tragöden beispielsweise schildern Situationen, in denen man sich nur falsch verhalten kann. Kennen wir das nicht?, fragt Nussbaum, und schildert ihr damaliges Dilemma als alleinerziehende Mutter, die sich ständig zwischen Fürsorge und beruflichen Pflichten entscheiden muss. Nussbaum, so fand ich dann heraus, hat sich Zeit ihres Lebens mit dem Stoizismus auseinandergesetzt: Hängt ein erfülltes Leben wirklich nur von der Kontrolle des Seelenlebens und der eigenen Gefühle ab? Darf das externe Geschehen dabei keine Rolle spielen?

Am nächsten Tag stieß ich dann in meiner Lieblingscommunity Metafilter auf einen Eintrag, der sich umfangreich und systematisch mit den aktuellen Interpretationen der Stoa beschäftigt. Darin wird immer wieder auf den britischen Philosoph Kai Whiting verwiesen, der sich in verschiedenen Vorträgen und Veröffentlichungen bemüht, den Stoizismus aus der individualistischen Nische zu holen und die Lehre für soziale, kosmopolitische und Nachhaltigkeitsgesichtspunkte zu öffnen. Gelingt ihm das?

Die stoische Lehre, so Whiting und seine Mitstreiter, sucht Erfüllung in der Entwicklung persönlicher Tugenden wie Mut, Gerechtigkeit, Selbstkontrolle und Weisheit. Dies findet in einem konzentrischen Gefüge von Loyalitätssphären statt, von denen das eigene Selbst nur den innersten Kern ausmacht. Es folgen die Familie, die Freunde, die Community, die Menschheit – und es ist nur ein kleiner logischer Schritt, den ganzen Planeten oder gar Kosmos als weitere Schicht hinzuzufügen, der die stoische Aufmerksamkeit und Pflege gebührt.

Nur, wie geschieht das? Bleibt nicht ein Grundprinzip der Lehre die Hinnahme externer Umstände, und steht diese nicht im Konflikt mit den Anforderungen einer Zeit, in der uns Klimakatastrophe, wiedererstarkender Faschismus und autoritäre Kulturentwürfe wie in Russland und China zur Einmischung geradezu verpflichten?

Eine Seitenlinie der Diskussion auf Metafilter beschäftigt sich mit dem auch in der Geschichte der Stoa nachweisbaren Prinzip des Kosmopolitismus – als weiterhin zeitgemäßer Gegenposition zur globalen Renaissance von Nationalismus und Protektionismus. Auch hierzu kann man wiederum Martha Nussbaum konsultieren, die dem Thema 1994 einen lesenswerten Artikel gewidmet hat. Nussbaum wendet sich darin gegen ihren Landsmann Richard Rorty, der versucht hat, den zunehmend voneinander entfremdeten Milieus in den USA durch eine Art neuen Patriotismus wieder eine Einheit zu verschaffen. In charakteristischer Gelehrtenattitüde holt sich Nussbaum Unterstützung bei einem anderen ‘master thinker’, dem indischen Poeten und Philosophen Rabrindanath Tagore, der die Vision eines aufgeklärten Kosmopolitismus vertreten hat, und präsentiert eine Reihe von rationalen Gründen, warum eine solche Weltoffenheit dem abgeschlossenen Weltbild der Nationalisten überlegen ist.

Aber auch hier stellt sich mir die Frage, ob das angestrebte Ideal von Respekt und Offenheit für andere Kulturen nicht zu pazifistisch gedacht ist. Können wir mit einer grundsätzlich versöhnlich gestimmten Einstellung zur Multikulturalität einer Situation gerecht werden, in der unsere eigenen Einsichten und die grundsätzlichen Errungenschaften der Aufklärung wie universelle Menschenrechte und Demokratie akut durch neue Autoritarismen in Frage gestellt und bedroht werden? Benötigen wir nicht vielmehr einen wehrhaften Kosmopolitismus? Und wie könnte der aussehen? Respekt ja, aber auch Selbstbehauptung und Verteidigung eigener Werte?

Eine andere Expertin, die Ideengeschichtlerin und Science-Fiction-Autorin Ada Palmer, hat sich in einem aktuellen Blogbeitrag kritisch mit der aktuellen Stoa-Mode in den USA und vor allem im Silicon Valley auseinandergesetzt. Sie weist darauf hin, dass die Stoa immer eine Philosophie gewesen ist, mit der die Mächtigen und Reichen gut leben konnten – eben weil sich ihr disruptives, revolutionäres Potential dann doch sehr in Grenzen hält. Sie empfiehlt, sich der Stoa nicht vollständig auszuliefern, sondern sie als ein exzellentes therapeutisches Werkzeug für viele Lebenslagen zu würdigen. Wenn es dann um den Umgang mit den uns umgebenden Missständen geht, täten wir gut daran, Seneca mit einer gesunden Dosis Aktivismus und Voltaire zu ergänzen.

Money Shot auf Ibiza

Die letzte Nacht brachte den 2017er FPÖ-Hack auf Ibiza an die Öffentlichkeit, der heutige Tag dann den Rücktritt von Neonazi Strache und die Ankündigung des ÖVP-Schnöselkanzlers Kurz, Neuwahlen anzustreben. Natürlich gibt es skeptische Stimmen: “Qui Bono” (sic!) fragt zum Beispiel mal wieder Daniel Bröckerhoff, mein Freund Olaf Steenfadt argumentiert, dass (1) Leak-Journalismus nicht dasselbe sei wie investigativer Journalismus, dass es sich (2) hier aber nicht einmal um ein Leak bestehender Evidenz handele, sondern um eine planmäßige Kampagnen-Maßnahme, zwei Jahre nach dem Geschehen und wenige Tage vor der wichtigen Europa-Wahl.

Natürlich wirft die Aktion Fragen auf, die beantwortet werden sollten, insbesondere über die Wahl ihres Zeitpunkts. Aber Undercover-Maßnahmen wie die Falle, in die Strache und sein Spießgeselle Gudenus auf Ibiza gelockt wurden, gehören durchaus zum legitimen Recherche-Werkzeug des investigativen Journalismus, insbesondere bei der Aufdeckung krimineller Machenschaften. Entscheidend bei der Bewertung sollten vor allem Wahrheit und Tragweite des Aufgedeckten sein. Und wer wollte daran zweifeln?

Auch sind die Übergänge solcher Undercover-Aktionen zu Media-Hacks und politisch motivierten Kunstaktionen, wie wir sie beispielsweise von den legendären Yes Men oder dem Zentrum für politische Schönheit kennen, fließend. Das heißt, wir haben es hier auch mit einer gewissermaßen ästhetischen Dimension zu tun, einer Art Glanz der Enthüllung, der jenseits von Schadenfreude vielleicht die Befriedigung erklärt, die man angesichts der Aktion empfindet.

Auf ins digitale Schlaraffenland!

Über die Zukunft öffentlich-rechtlicher Mediatheken.  

Weitgehend unbemerkt hat die ARD zum Jahresende ihre renovierte Mediathek freigeschaltet. Das Resultat ist vielversprechend, wirkt aber immer noch nicht ausgereift. Es gibt Top-Empfehlungen auf einem Slider mit großflächigen Bildern und eine eher willkürlich anmutende Abfolge von Empfehlungskategorien. Die einzelnen in der ARD zusammengeschlossenen Sender sind nicht mehr nur über den Livestream zugeschaltet, sondern haben alle ihren eigenen Kanal bekommen. Bespielt wird das ganze einstweilen etwas planlos, bei den Empfehlungen wird auf bewährte Kost gesetzt, aktuelle Tatort-Episoden und andere Prime-Time-Formate beherrschen das Bild. Das alte Serviceprinzip “Sendung verpasst?” wirkt immer noch nach und blockiert anscheinend den redaktionellen Erneuerungs- und Gestaltungswillen.   

Dabei geht es auch anders. Die Kollegen vom Zweiten Deutschen Fernsehen sind bei der Gestaltung ihrer Mediathek deutlich mutiger zu Werke gegangen. Dort haben sich die Planer spürbar an den großen Konkurrenten aus Übersee orientiert: An Netflix, Amazon Prime, YouTube, die den Rundfunkanstalten zurzeit weltweit die Zuschauer abwerben. In der ZDF-Mediathek werden offensiv Mehrteiler und innovative Serien beworben. Redaktionell gepflegte Themen und gewünschte Erlebniswelten der Zuschauer strukturieren das sorgfältig kuratierte Angebot – nicht der eher zufällige Nachhall gerade abgelaufener linearer Programme, oder die byzantinische Struktur eines komplizierten föderalen Senderverbunds.   

Auch im öffentlich-rechtlichen Radio hat man die Zeichen der Zeit bereits verstanden. Hier war es unter anderem der Boom der abonnierbaren Podcasts im Internet, der das Signal zum Umdenken gab. Den Anfang machte der kleine aber feine Deutschlandfunk mit einer wirklich exzellenten Audiothek. Die Kollegen vom ARD Radio zogen kurze Zeit später mit einer respektablen Lösung nach.   

Ein großes Umdenken ist notwendig geworden, und dies mehr noch beim Fernsehen als beim Radio. Denn die nachwachsenden Zuschauergenerationen sitzen eigentlich nur noch aus Trägheit vor den klassischen Endgeräten mit ihren sequentiell programmierten Kanälen. Längst setzen sich neue Nutzungsgewohnheiten durch, mit weitreichenden Konsequenzen für die gesamte strategische Aufstellung der klassischen Rundfunkanstalten.   

Jedes Jahr frage ich meine Studenten, wie sie ihre Medien konsumieren. Die meisten besitzen nicht einmal mehr einen Fernseher, selbst das lineare Programm verfolgen sie als Stream auf dem Computer oder – immer mehr – auf mobilen Endgeräten. Und mit der Flexibilisierung von Ort und Zeit einher geht der zunehmende Wunsch, das Programm auch inhaltlich nach eigenen Möglichkeiten und Wünschen zu gestalten. Dabei spielen – neben Youtube, Amazon und Netflix – durchaus auch die Mediatheken der Öffentlich-rechtlichen eine wichtige Rolle. Und vielfach wird nur noch deswegen linear geschaut, weil die Mediatheken hierzulande immer noch so schlecht sind.   

Hier liegt der Kern der Herausforderung, der sich die öffentlich-rechtlichen Anbieter stellen müssen: Wer heute seine Inhalte ans Publikum bringen will, muss von dessen Bedürfnissen ausgehen, und diese Bedürfnisse erfahren gerade einen rapiden, gesellschaftlich wie technologisch bedingten Wandel. Die Zeiten eines verlässlichen, etablierten sequentiellen Angebotsrasters, das man dann mit unterschiedlichem Geschick bespielen kann, sind vorbei.   

Auch die neuen On-Demand-Angebote müssen natürlich Aktualität reflektieren, aber zugleich können und müssen Sie auf eine nie gekannte Weise Breite zeigen. Das bietet zugleich das Potential einer Überprüfung bestehender Angebotsstrukturen. Schon jetzt machen die Mediatheken viele Schwächen der linearen Programmierung sichtbar: So wird beispielsweise erst in der Anhäufung die Absurdität von buchstäblich Dutzenden parallel geführter Krimiserien à la Tatort oder Taunuskrimi wirklich deutlich.   

Statt der auf den Primetime-Sendeplatz optimierten 90-Minuten-Folgen könnten künftig mehr neue, dramaturgisch anspruchsvollere Serienformate nach amerikanischen Vorbild entwickelt werden. Die heimatkundlichen 45-Minuten-Dokus aus dem Vorabendprogramm der Dritten, mit denen die Anstalten ihre Informationsquote aufpimpen, könnten zunehmend echten Dokumentarfilmen mit breiten gesellschaftlich-politischen Themen weichen. Auch das vermeintliche Nischenthema aus dem Nachtprogramm bekäme eine Chance auf einen Platz auf der dauerhaft zugänglichen Frontseite.   

Im Zukunftsland professionell gestalteter öffentlich-rechtlicher Mediatheken würde den Nutzer eine breite Palette bedarfsgerechter Inhalte begrüßen, die abseits vom absurden Kampf um den besten Sendeplatz rund um die Uhr zur Verfügung stehen und glaubhaft und für jedermann überprüfbar verdeutlichen, dass die Sender ihrem Auftrag zur Grundversorgung an Information, Bildung und Unterhaltung wirklich nachkommen. Darüber hinaus könnten solche On-Demand-Plattformen Anschlussfähigkeit nach außen beweisen: zum Beispiel zu Partneranstalten im europäischen Ausland, oder zu anderen Anbietern öffentlicher Informations- und Bildungsgüter, wie Theater oder Museen.   

Wichtig hierfür sind gut gestaltete Schnittstellen. Auf der Startseite einer Mediathek muss dem nur vorbeistreunenden potentiellen Nutzer ein breites Angebot von attraktiven Empfehlungen gemacht werden. Dem Nutzer, der dort mit konkreten Wünschen erscheint, müssen Wege eröffnet werden, transparent und schnell zu den Sendungen zu gelangen, nach denen er sucht. Alle Sendungen müssen mit hinreichend Erläuterungstext versehen sein, um Auswahl und Einordnung der Formate zu ermöglichen.   

Noch gibt es viel zu wenig etabliertes Designerwissen über die Nutzerführung in großen digitalen Archiven. Auch die besten Mediatheken sind bislang weit davon entfernt, den künftigen Anforderungen gerecht zu werden. Das gilt übrigens ebenso für die kommerziellen Vorbilder aus den USA: Auch bei Netflix oder Amazon Prime ist das Stöbern in den Angeboten eher Qual als Freude. Hier besteht noch Handlungsbedarf, auch für uns Kommunikationswissenschaftler.   

Eigentlich sind die öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland für die kommenden Herausforderungen gut aufgestellt. Der Programmauftrag schreibt ihnen Vielfalt vor, in ihren Archiven liegen bereits große Schätze. Eine künftig mehr auf Mediatheken hin optimierte Programmplanung könnte dieses Potential deutlich weiter entwickeln.

Dafür jedoch reicht es nicht, wenn irgendwelche Kellerteams auf Geheiß von obskuren Stabsstellen schlaue Konzeptpapiere schreiben,  und diese dann mit knappen Mitteln mehr schlecht als recht umgesetzt werden. Wie in anderen Bereichen verlangt die Digitalisierung auch von den Rundfunkanstalten und ihren Intendanzen einen weit tiefer gehenden Wandel.   

Programmplanung für Mediatheken, die zu umfassenden On-Demand-Plattformen heranwachsen sollen, braucht eine hohe Priorisierung, eine eigene Programmdirektion mit solider finanzieller Ausstattung. Denn nicht nur die neue inhaltliche Gestaltung, auch die dafür notwendigen technischen und organisatorischen Infrastrukturen erfordern tiefe Eingriffe in Strategie und Management der Rundfunkanstalten, ebenso wie nachhaltige Anstrengungen in den Bereichen Forschung und Entwicklung.   

“Online first!” hieß der entsprechende Slogan in der Printbranche, und nur der Axel-Springer-Verlag hat sich dem bislang wirklich gestellt. “On demand first!” muss der entsprechende Slogan im Rundfunkbereich lauten, und seine konsequente Umsetzung kann für die öffentlich-rechtlichen Anstalten in Deutschland überlebensentscheidend sein. Lineare Programme werden auch künftig einen Platz im Angebotsstrauß audiovisueller Inhalte haben. Aber das lineare Paradigma darf die nachdrückliche Entwicklung zeitgemäßer Angebotsformen nicht weiter behindern.   

Dieser Beitrag erschien zuerst im Dokublog von SWR2 und später bei epd medien

Heldinnen

Men have been getting on my nerves lately.

Barack Obama

Dumme alte Säcke übernehmen gerade die Welt. Sie wollen noch einmal richtig Party machen, Rücksichtnahme ist für Sissys.

Da ich selbst gender- und altersmäßig in der Gefahrenzone lebe, achte ich auf meine geistig-moralische Diät und lese statt verdummter alter Männer (Sloterdijk, Martenstein, etc.) Frauen von überlegener Klugheit. Zum Beispiel:

  • Ursula Le Guin – Viel zu spät entdeckt, was für eine Persönlichkeit, was für eine Stimme! Ihr leider letztes Buch, eine Sammlung von Blogbeiträgen, trägt den Titel, den ich zu einem meiner persönlichen Mottos machen möchte: “No Time To Spare. Thinking About What Matters” (Die Geschichte hinter diesem Titel ist erhellend: Die 80jährige schreibt über einen Fragebogen, den die Harvard-Universität an ihre ältesten Alumni verschickt hatte. Eine Frage darin lautete: “In your spare time, what do you do?” Nach einer längeren Reflexion über das Leben und Zeiterleben alter Menschen resümiert Le Guin verärgert: “What is Harvard thinking of? I am going to be eighty-one next week. I have no time to spare.”)
  • Rebecca West – Eine weitere späte Entdeckung. Ihr Reisebericht “Black Lamb and Grey Falcon” über Jugoslawien im Jahr 1937 wäre die bestmögliche Vorbereitung auf unsere gerade abgeschlossene Kroatienreise gewesen. So habe ich erst unterwegs angefangen, darin zu lesen, und immer noch unheimlich viel gelernt. Anders als bei Le Guin stoßen wir bei West öfter mal auf Ansichten, denen wir wahrscheinlich nicht ohne weiteres folgen möchten, aber alles was sie sagt und schreibt zeugt von einem so ungeheuren Wissen und einer so überwältigenden Intelligenz, dass man sich ihrer Analyse und auch ihrem Urteil auch dort immer wieder anvertraut, wo diese den eigenen Ansichten und Denkgewohnheiten zunächst widersprechen.
  • Rebecca Solnit – Die andere, jüngere Rebecca, Feministin wie West und Le Guin, eine der artikuliertesten Stimmen des US-amerikanischen Widerstands, schon gegen George W. Bush, gegen die Macht der Wall Street, jetzt gegen Trump und alles, wofür er steht. Stimme der Entschlossenheit und der Hoffnung. Ein Diskurs auf der Beziehungsebene, fast therapeutisch. 

Die Liste ließe sich fortsetzen, zum Beispiel mit Ökonominnen wie Mariana Mazzucato oder Ann Pettifor, aber das ist zu viel für heute. Vielleicht später einmal.

#metoo in China (Neuauflage)

Während wir hier in Deutschland unter dem Hashtag #metwo Erlebnisberichte über den Alltagsrassismus lesen und diskutieren müssen, dem viele als fremd empfundene Mitbürger immer wieder ausgesetzt sind, tobt in China gerade eine Neuauflage der klassischen #metoo-Debatte.

Nach einer ersten Welle vor einigen Monaten, in der Frauen überwiegend Erfahrungen mit ihren Professoren an Hochschulen geteilt und diskutiert hatten, sind es jetzt vor allem Medienmacher und öffentliche Intellektuelle, denen sexuelle Übergriffigkeit und Missbrauch vorgeworfen werden. Die Staatsmacht ist ein bisschen verwirrt und lässt der Diskussion zunächst weitgehend freien Lauf. Immerhin zählen viele der Bezichtigten zur liberalen Elite, die der Partei eh ein Dorn im Auge ist. Aber es besteht ja die Gefahr, dass irgendwann auch Funktionäre aus Partei oder Staatsbetrieben in den Fokus geraten, und dann ist natürlich Schluss mit lustig.

Q hat gleich zu Beginn der Debatte für ein Online-Medium in Hongkong einen Artikel über die kulturellen und strukturellen Rahmenbedingungen geschrieben, die chinesische Mädchen und Frauen zu perfekten Opfern sexueller Gewalt machen. Der Artikel hatte innerhalb von 2 Tagen mehr als eine halbe Million LeserInnen, und jetzt ist sie praktisch rund um die Uhr eingebunden in eine gewaltige, teilweise hart geführte öffentliche Diskussion mit täglich neuen Enthüllungen, Verteidigungsgefechten der Täter und ihrer Sympathisanten und einer ständig wachsenden, sehr artikulierten und zunehmend ermächtigten Masse Betroffener.

Schon früh war ein prominenter Fernsehmoderator, Gastgeber der legendären TV-Gala zum chinesischen Neujahrsfest, unter Druck geraten. Heute veröffentlichen Mönche eines berühmten buddhistischen Klosters, viele von ihnen Absolventen chinesischer Eliteuniversitäten wie Qinghua in Beijing, einen akribisch recherchierten Bericht über die Missbrauchsgeschichte ihres leitenden Abtes. In Fällen wie diesen, wenn es um Personen geht, die ihre Autorität mit Einverständnis und im Glanz der Staatsmacht ausüben, reagieren die Zensurbehörden dann doch nervös, und die einschlägigen Namen und Stichworte geraten auf die Bannlisten der Suchmaschinen.

Dennoch zeigt die Bewegung, dass trotz der totalitären Entwicklungen im China unter Xi Jinping pessimistische Prognosen über das Ende der chinesischen Zivilgesellschaft verfrüht sind.

Schneeregen und re:publica

Noch einmal zieht etwas Kaltes, Nasses über uns hinweg, irgendwo aus Richtung Nordsee, Nordmeer. Man assoziiert gleich gischtumtoste Ölplattformen. Ungemütlich.

Die re:publica wird in diesem Jahr ohne mich stattfinden – nachdem das Programmkommittee zum zweiten Mal in Folge einen Themenvorschlag zu den Öffentlich-Rechtlichen abgelehnt hat. Diesmal wollte ich Bedingungen eines konstruktiven Reformdialogs aus Nutzersicht skizzieren. Ich könnte mir ehrlich gesagt derzeit kaum ein relevanteres Thema im Rahmen einer ‘re:publicanischen’ Öffentlichkeit vorstellen. Wenn es nach mir ginge, hätte man die gesamte re:publica unter das Thema Public Value vs. Populismus stellen können. Stattdessen ist das Motto diesmal POP, ganz ungebrochen.

Aber es ist so eine Sache mit der Relevanz. Das kennen wir im Journalismus ja auch: Die Nachrichtenwerte kippen auch gerne in Richtung POPulismus, statt die gesellschaftlich anstehenden Fragestellungen abzubilden.

Ein Problem mit der re:publica ist der Wohlfühlfaktor. Die Veranstaltung ist irgendwie kuschelig gealtert. So wie sie über die Jahre gewachsen ist, kuscheln sich dort inzwischen natürlich andere Leute als am Anfang. Viel PR und Marketing hat sich eingenistet – was aus meiner Sicht vollkommen okay ist, solange der eigentliche, namengebende Fokus dabei nicht verloren geht.

Und bei den Medienthemen? In meinen Augen war es von Anfang an ein Fehler, diese in die Media Convention (MC) auszugliedern. Denn das ist keine primär zivilgesellschaftlich aufgestellte Zusammenkunft, sondern eine im Auftrag der Länder Berlin und Brandenburg organisierte Branchenmesse. Dort kommen die wichtigen Themen zwar auch irgendwann an, aber der ‘re:publicanische’ Spirit überlebt den Weg in die dort primär vertretenen Ebenen (Chefetagen und Vertreter von Organisationen, Regierungsstellen, Unternehmen. etc.) eher selten.

So werden die BesucherInnen der MC zum Thema öffentlich-rechtlicher Rundfunk in diesem Jahr den Verlautbarungen des ZDF-Intendanten Thomas Bellut lauschen dürfen und in einer Podiumsdiskussion die Vizedirektorin der Schweizer SRG/SRR, die Intendantin des RBB und die Generaldirektorin des dänischen DR erleben. Immerhin, die Frauenquote wird eingehalten, das ist ja schon mal was.

Schade, ich hätte gerne wieder ein bisschen mitgemischt. Vielleicht müssen wir als BürgerInnen uns ja nicht nur die Öffentlich-Rechtlichen zurückerobern, sondern auch die re:publica. Oder ich suche mir einfach andere Bühnen. Denn die Themen brennen, und es bleibt wenig Zeit. Mit einem geschätzten Kollegen habe ich kürzlich über die Kunst des souveränen Ausweichens gesprochen. Aber das ist das Thema für einen anderen Beitrag.

[UPDATE 29. März 2018] Doch keine Pause! Das Programmkommittee hat noch ein Plätzchen für die konstruktive Kritik an den öffentlich-rechtlichen Medien gefunden: Freitag 4.5. gegen Mittag: 2×30 min für den Volker Grassmuck und mich. @republica zurückerobert! 😉 #rp18

Sprachphilosophischer Nachmittag

Lange Diskussion mit der Tochter über Kommunikation. Gibt es überhaupt gelungene Kommunikation? Kann man – entgegen Watzlawick – nicht kommunizieren? Sind Lügen Kommunikation? Ist nicht jede Kommunikation auch Manipulation? Kann ich lügen, indem ich sage, was ich tatsächlich glaube? Kann man mit sich selbst kommunizieren? Kommunizieren ‘innere Stimmen’ mit uns? Welche Rolle spielt der Kontext für die Interpretation einer Äußerung? Wie weit geht der Kontext? Was drücken wir mit einer Äußerung aus, Gedanken oder Gefühle?

Ich komme mir vor wie in einem Seminar bei Wolfgang Künne oder Peter Bieri.

Zombie-Ameisen

Wie viele andere beschäftigt mich zurzeit ein Gebräu miteinander zusammenhängender Probleme und Fragen rund um die Themen Populismus und politische Vernunft. In dieser Form begonnen hat es in den letzten Monaten von Donald Trumps Präsidentschaftswahlkampf, mit seinem Wahlsieg als vorläufigem traurigen Höhepunkt. Parallel dazu die deprimierenden Entwicklungen in der Türkei, in Ungarn und Polen, die Selbstentlarvung der AfD als Partei buchstäblich fahnenschwenkender Neonazis. Wochen- nein: monatelang habe ich obsessiv viele Nachtstunden auf Twitter verbracht, weil ich mir schlicht nicht vorstellen konnte, dass das Immunsystem der USA sich der schädlichen Trumpisierung nicht unmittelbar entledigen würde. Inzwischen ist mein medizinisches Bild – dort wie hier in Europa – eher an Krebs als an viraler Infektion orientiert: es geht nicht primär um die parasitäre Übernahme eines Gastkörpers, sondern um einen zutiefst destruktiven internen Vorgang, dessen Ursprung und Wirkprinzipien wir noch nicht annähernd verstanden haben.

Als Philosoph interessiert mich die Aufkündigung eines vermeintlich sicheren Konsenses von Grundwerten, aber mehr noch die zunehmende Abkehr von Grundprinzipien der Rationalität, wie der Faktenbasiertheit praktischer (und damit auch: politischer) Entscheidungen. Wir alle – auch die tumbesten AfD-Anhänger – wissen in unserem Alltag um die ‘normative Kraft des Faktischen’. Wüssten wir es nicht, würden wir ständig gegen Glastüren laufen, unsere Züge verpassen und versuchen, im Baumarkt Gemüse zu kaufen.

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