Ganz weit unten

Ein starker Begriff, der uns fast abhanden gekommen ist, verdient reaktiviert zu werden: die “Niedertracht”. Für die, denen das zu sehr tümelt, gibt es auch zwei lateinische Fremdwörter, die um die Übersetzung rivalisieren: “Infamie” und “Perfidie”. Beide treffen jedoch den schönen naheliegenden Wortsinn des deutschen Begriffs nicht genau: Wer niederträchtig ist, trachtet nach dem Niederen, dem Schlechten, dem Bösen. Er oder sie kennt die Richtung des moralischen Kompass und entscheidet sich bewusst dagegen.

Ich muss zugeben, dass dies erst eine spätere Lesart des Wortes ist. Ursprünglich bedeutete “Niedertracht” wohl einmal so etwas wie Bescheidenheit: sich niedrig tragen. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts bekam das Wort seine heutige Bedeutung einer niedrigen moralischen Gesinnung. Doch zurück zu den lateinischen Synonymen: “Infamie” beschrieb im alten Rom einen Zustand gesellschaftlicher Ächtung, also eine schlechte Reputation, während “Perfidie” die besondere Missetat des Verrats an einer bestehenden Vertrauensbeziehung bezeichnet – sicher auch eine Form der Niedertracht, aber ebenso sicher nicht die einzige.

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They are alive…!

Gruselig, nicht wahr…? Das sind Katsuobushi, Flocken, die aus getrocknetem, fermentiertem und geräuchertem Bonito-Thunfisch hergestellt werden. Sie zieren und verfeinern hier einen extrem leckeren japanischen Pfannkuchen, den man auf vielfältige Weise herstellen kann, und der dehalb Okonomiyaki heißt. Das bedeutet so viel wie “Gebratenes nach Belieben”.
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Das universelle Buch

Gelesen wird seit Weihnachten überwiegend auf dem Kindle Paperwhite. Mit Hilfe der großartigen Software [Calibre](http://calibre-ebook.com/) habe ich das Gerät mit einer wirklich bemerkenswerten, übersichtlichen Klassikerbibliothek bestückt. Rund 500 rechtefreie Titel, das entspricht schon fast einer typischen Berliner Wohnzimmerwand voller Billy-Regale, wie man sie an Winterabenden überall durch die erleuchteten Fenster sieht.

Quellen sind vor allem die DVD-Roms der Digitalen Bibliothek, die Zweitausendeins bis vor ein paar Jahren für wenig Geld verkauft hat, sowie die Webarchive von [feedbooks](http://www.feedbooks.com) und [mobileread](http://www.mobileread.com). Einige Schmuckstücke findet man auch bei [Izzy’s Public Domain Bibliothek](http://ebooks.qumran.org/opds/index.php?lang=de&pageformat=html). Dazu ein paar Dutzend bei Amazon gekaufter aktueller Kindle-Titel, und es bleiben eigentlich nur wenige Wünsche offen. (Jetzt müsste der Springer-Wissenschaftsverlag seine Titel über Springer Link nur noch in einem properen E-Book-Format anbieten…)

Die Erfahrung zeigt bereits, dass dieses wunderbare kleine Device erheblich zur Entschleunigung des Alltags und zur sanften Entwöhnung vom Smartphone- und Social-Media-Crack beiträgt.

Wechsel

Ein Unternehmen, das mich seit Beginn meines Lebens zuerst getragen, dann begleitet, und mir über manche finanzielle Durststrecke sanft hinweg geholfen hat, klingt langsam aus. Ein anderes, das mich hoffentlich bis zum Ende meines Lebens positiv fordern und in Atem halten wird, befindet sich in Gründung: Nach dem Termin beim Notar vor ein paar Tagen haben wir heute bei meiner alten Familienbank das notwendige Geschäftskonto eingerichtet und unser kleines Stammkapital eingezahlt.
Notarsiegel
Ich habe eigentlich keinen Sinn für’s Geldverdienen, und erst recht keinen ‘entrepreneurial spirit’. Schon die geringen Herausforderungen meiner kurzen freiberuflichen Arbeitsperiode Anfang der 2000er Jahre haben mich rettungslos überfordert. Dennoch bin ich diese Woche auch ein bisschen stolz, weil der Wechsel einen Übergang von der Passivität (Vaters Erbe, Alimentierung) in die Aktivität (eigene Ideen, Risiko) bedeutet – auch wenn die Gestaltung des neuen Projekts vor allem in den Händen anderer liegt.

Nauheimer Passionsgeschichten Anno 1915

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Der ungewöhnlichste, abgründigste und beste Roman, den ich in letzter Zeit – einer [Empfehlung von Julian Barnes im Guardian](http://www.theguardian.com/books/2008/jun/07/fiction.julianbarnes) folgend – gelesen habe, erlebt in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag: Ford Madox Fords “The Good Soldier”, im Kriegsjahr 1915 zuerst erschienen, ist ein düsteres Kammerspiel, erzählt aus der Sicht eines der Beteiligten – der seine eigene Rolle im Drama allerdings schon im allerersten, berühmten Satz verleugnet: “This is the saddest story I have ever heard”.
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Business as usual

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Sieben Stunden kleine Bühne, großes Theater: eine improvisierte Allianz aus jungen und älteren Profis und Amateuren gegen ein paar zynische und machterprobte Autokraten. Wie immer in Geschäft und Politik ging es um handfeste Interessen, doch auch um die Bedeutung von vernünftigen Argumenten und transparentem, informiertem Diskurs auf der Suche nach einem für alle tragfähigen Kompromiss.

Eine “unwürdige Versammlung” sei das gewesen, sagte am Schluss der siegreiche Gegenspieler – aus seiner Position eine wohlfeile Bilanz, wenn auch mit Zähneknirschen vorgetragen: Kurzfristig hatten wir ihn mit vereinten Kräften an die Wand gedrängt, doch mit größerer Erfahrung, kaltschnäuzigem Kalkül und einer Portion Glück haben er und seine Gefolgsleute ihr Spiel dann doch noch durchgezogen und heimgebracht.

Uns bleibt der kleine Triumph, so lange standgehalten zu haben, ohne den Blick zu senken.

Ein Wissenschaftler seiner selbst

Vor einigen Tagen hat mich die Nachricht erreicht, dass Seth Roberts am 26. April auf einer Wandertour in der Nähe seiner Heimatstadt Berkeley gestorben ist.

Ich habe Seth im Herbst 2008 in Beijing kennengelernt, in einem Café im Universitätsviertel nahe der Qinghua-Universität, das damals noch den schönen Namen ‘Sculpting in Time’ trug (heute heißt es ‘Bridge’). Dieses Café ist einer jener für Beijing typischen Plätze, wo man rund um die Uhr abhängen oder arbeiten kann, mit kostenlosem Wifi, Kaffee, Kuchen und amerikanisiertem Italo-Food. Die Mehrzahl der Besucher sind ausländische Studenten, aber auch Chinesen treffen sich dort gerne.

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Armadale, Sitz der MacDonalds

Gerade habe ich den Text eines Studenten zum Thema Lost Places-Fotografie redigiert. Das hat die Erinnerung wachgerufen an ein Erlebnis im Sommer des Jahres 1971. Damals war ich als Junge mit meinen Eltern und Geschwistern per Auto in Schottland unterwegs.

Ein verlassenes Bootshaus an einer Küstenstraße im Süden der Isle of Skye brachte uns zum Aussteigen. Uns fiel die außerordentlich schöne und reichhaltige Vegetation des Küstenstreifens auf. Deshalb folgten wir einem Pfad durch urwaldartiges Grün ins Landesinnere. Schon nach Kurzem wurde klar, dass es sich um einen verwilderten Park handelte, voller Blumen und exotischer Pflanzen. Wenig später erreichten wir den dazugehörigen Herrensitz – eine Schlossruine, die aber wohl teilweise noch vor nicht allzu langer Zeit bewohnt gewesen war.

Foto: Wojsyl / Wikimedia Commons
Armadale Castle heute (Foto: Wojsyl / Wikimedia Commons)

Die Tür war nicht verschlossen, und wir verschafften uns Eintritt. In der Halle starrte uns von der Wand ein riesiger Hirschkopf an, nur mehr Geweih und Schädel, von dem das Fell in Fetzen herunterhing. Ein umgeworfener Rollstuhl, verrottete Möbel, Geschirr, sogar noch aufgeschlagene Bücher. Alles sah so aus, als hätten die Bewohner das Schloss irgendwann in den 20er Jahren überstürzt verlassen, ohne etwas mitzunehmen, ohne Haushaltsauflösung und Entrümpelung.

Nach einem ausführlichen Streifzug durch die Räume und die umliegenden Gartenanlagen verließen wir das Anwesen in ehrfürchtiger Stimmung. Wir haben uns dann im nächsten Ort nach dem Namen erkundigt. Armadale Castle hieß es. Die weiteren Auskünfte haben wir wegen des starken schottischen Dialekts des Pub-Owners nicht so recht verstanden, aber der Name ist mir im Gedächtnis geblieben.