Manchmal kreuzen sich ganz zufällig verschiedene Sinnlinien und ergeben für einen Moment eine plastische Gestalt. So ging es mir in den letzten Tagen mit dem aktuellen Erscheinungsbild der stoischen Philosophie.
Ich hatte gerade in meinem Ebook-Archiv ein bisschen Marc Aurel und Epiktet, sowie die stoischen Lebensratschläge des britischen Romanciers Arnold Bennett gelesen, als ich auf Youtube auf ein mehr als 30 Jahre altes Video mit der US-amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum stieß. Darin ging es darum, wie man antike Autoren zum Gespräch in die Gegenwart holen kann: Die griechischen Tragöden beispielsweise schildern Situationen, in denen man sich nur falsch verhalten kann. Kennen wir das nicht?, fragt Nussbaum, und schildert ihr damaliges Dilemma als alleinerziehende Mutter, die sich ständig zwischen Fürsorge und beruflichen Pflichten entscheiden muss. Nussbaum, so fand ich dann heraus, hat sich Zeit ihres Lebens mit dem Stoizismus auseinandergesetzt: Hängt ein erfülltes Leben wirklich nur von der Kontrolle des Seelenlebens und der eigenen Gefühle ab? Darf das externe Geschehen dabei keine Rolle spielen?
Am nächsten Tag stieß ich dann in meiner Lieblingscommunity Metafilter auf einen Eintrag, der sich umfangreich und systematisch mit den aktuellen Interpretationen der Stoa beschäftigt. Darin wird immer wieder auf den britischen Philosoph Kai Whiting verwiesen, der sich in verschiedenen Vorträgen und Veröffentlichungen bemüht, den Stoizismus aus der individualistischen Nische zu holen und die Lehre für soziale, kosmopolitische und Nachhaltigkeitsgesichtspunkte zu öffnen. Gelingt ihm das?
Die stoische Lehre, so Whiting und seine Mitstreiter, sucht Erfüllung in der Entwicklung persönlicher Tugenden wie Mut, Gerechtigkeit, Selbstkontrolle und Weisheit. Dies findet in einem konzentrischen Gefüge von Loyalitätssphären statt, von denen das eigene Selbst nur den innersten Kern ausmacht. Es folgen die Familie, die Freunde, die Community, die Menschheit – und es ist nur ein kleiner logischer Schritt, den ganzen Planeten oder gar Kosmos als weitere Schicht hinzuzufügen, der die stoische Aufmerksamkeit und Pflege gebührt.
Nur, wie geschieht das? Bleibt nicht ein Grundprinzip der Lehre die Hinnahme externer Umstände, und steht diese nicht im Konflikt mit den Anforderungen einer Zeit, in der uns Klimakatastrophe, wiedererstarkender Faschismus und autoritäre Kulturentwürfe wie in Russland und China zur Einmischung geradezu verpflichten?
Eine Seitenlinie der Diskussion auf Metafilter beschäftigt sich mit dem auch in der Geschichte der Stoa nachweisbaren Prinzip des Kosmopolitismus – als weiterhin zeitgemäßer Gegenposition zur globalen Renaissance von Nationalismus und Protektionismus. Auch hierzu kann man wiederum Martha Nussbaum konsultieren, die dem Thema 1994 einen lesenswerten Artikel gewidmet hat. Nussbaum wendet sich darin gegen ihren Landsmann Richard Rorty, der versucht hat, den zunehmend voneinander entfremdeten Milieus in den USA durch eine Art neuen Patriotismus wieder eine Einheit zu verschaffen. In charakteristischer Gelehrtenattitüde holt sich Nussbaum Unterstützung bei einem anderen ‘master thinker’, dem indischen Poeten und Philosophen Rabrindanath Tagore, der die Vision eines aufgeklärten Kosmopolitismus vertreten hat, und präsentiert eine Reihe von rationalen Gründen, warum eine solche Weltoffenheit dem abgeschlossenen Weltbild der Nationalisten überlegen ist.
Aber auch hier stellt sich mir die Frage, ob das angestrebte Ideal von Respekt und Offenheit für andere Kulturen nicht zu pazifistisch gedacht ist. Können wir mit einer grundsätzlich versöhnlich gestimmten Einstellung zur Multikulturalität einer Situation gerecht werden, in der unsere eigenen Einsichten und die grundsätzlichen Errungenschaften der Aufklärung wie universelle Menschenrechte und Demokratie akut durch neue Autoritarismen in Frage gestellt und bedroht werden? Benötigen wir nicht vielmehr einen wehrhaften Kosmopolitismus? Und wie könnte der aussehen? Respekt ja, aber auch Selbstbehauptung und Verteidigung eigener Werte?
Eine andere Expertin, die Ideengeschichtlerin und Science-Fiction-Autorin Ada Palmer, hat sich in einem aktuellen Blogbeitrag kritisch mit der aktuellen Stoa-Mode in den USA und vor allem im Silicon Valley auseinandergesetzt. Sie weist darauf hin, dass die Stoa immer eine Philosophie gewesen ist, mit der die Mächtigen und Reichen gut leben konnten – eben weil sich ihr disruptives, revolutionäres Potential dann doch sehr in Grenzen hält. Sie empfiehlt, sich der Stoa nicht vollständig auszuliefern, sondern sie als ein exzellentes therapeutisches Werkzeug für viele Lebenslagen zu würdigen. Wenn es dann um den Umgang mit den uns umgebenden Missständen geht, täten wir gut daran, Seneca mit einer gesunden Dosis Aktivismus und Voltaire zu ergänzen.
English Version (thx to DeepL):
MIND WORKS/STRANGE MOVIES FROM THE PAST
The end of serenity?
Published 19 May 2019 by Lorenz Lorenz-Meyer / 0 comments
Sometimes, by chance, different lines of meaning cross each other, resulting in a sculptural figure for a moment. That’s how I felt about the current appearance of stoic philosophy in the last few days.
I had just read a bit of Marc Aurel and Epiktet in my ebook archive, as well as the stoic life advice of the British novelist Arnold Bennett, when I came across a more than 30-year-old video with the American philosopher Martha Nussbaum on Youtube. The video was about how ancient authors can be brought into the present for discussion: The Greek tragedies, for example, describe situations in which one can only behave wrongly. Nussbaum asks, “Don’t we know this?” and describes her dilemma at the time as a single mother who constantly has to choose between child care and professional duties. Nussbaum, I found out, spent her whole life dealing with stoicism: Does a fulfilled life really depend only on the control of the soul and one’s own feelings? Is the external event not allowed to play a role?
The next day I came across an entry in my favourite Metafilter community that deals extensively and systematically with the current interpretations of the Stoa. In this entry the British philosopher Kai Whiting is referred to again and again, who in various lectures and publications tries to bring stoicism out of the individualistic niche and to open the doctrine to social, cosmopolitan and sustainability aspects. Will he succeed?
According to Whiting and his colleagues, the Stoic doctrine seeks fulfilment in the development of personal virtues such as courage, justice, self-control and wisdom. This takes place in a concentric structure of spheres of loyalty, of which one’s own self constitutes only the innermost core. Family, friends, community, humanity follow – and it is only a small logical step to add the whole planet or even cosmos as another layer that deserves stoic attention and care.
But how does that happen? Does not the acceptance of external circumstances remain a basic principle of the doctrine, and is this not in conflict with the demands of a time in which climate catastrophe, resurgent fascism and authoritarian cultural designs, as in Russia and China, virtually oblige us to interfere?
One side line of the discussion on Metafilter deals with the principle of cosmopolitanism, which can also be seen in the history of the Stoa – as a continuing contemporary counterposition to the global renaissance of nationalism and protectionism. Martha Nussbaum, who dedicated an article worth reading to the topic in 1994, can also be consulted here. In it, Nussbaum turns against her compatriot Richard Rorty, who tried to reunite the increasingly alienated milieus in the USA through a kind of new patriotism. In characteristic scholarly attitude, Nussbaum seeks the support of another ‘master thinker’, the Indian poet and philosopher Rabrindanath Tagore, who advocated the vision of an enlightened cosmopolitanism, and presents a number of rational reasons why such an openness to the world is superior to the closed worldview of the nationalists.
But also here the question arises whether the aspired ideal of respect and openness for other cultures is not too pacifistic. With a fundamentally conciliatory attitude towards multiculturalism, can we do justice to a situation in which our own insights and the fundamental achievements of the Enlightenment, such as universal human rights and democracy, are acutely questioned and threatened by new authoritarianisms? Do we not rather need a more defensive cosmopolitanism? And what might that look like? Respect yes, but also self-assertion and defence of one’s own values?
Another expert, the historian of ideas and science fiction author Ada Palmer, has taken a critical look at the current Stoa fashion in the USA and above all in Silicon Valley in a recent blog post. She points out that the Stoa has always been a philosophy with which the powerful and rich could live well – precisely because its disruptive, revolutionary potential is very limited. She recommends that we should not surrender ourselves completely to the Stoa, but that we should recognize it as an excellent therapeutic tool for many situations in life. When it comes to dealing with the grievances that surround us, we would do well to supplement Seneca with a healthy dose of activism and Voltaire.