Über die Zukunft öffentlich-rechtlicher Mediatheken.
Weitgehend unbemerkt hat die ARD zum Jahresende ihre renovierte Mediathek freigeschaltet. Das Resultat ist vielversprechend, wirkt aber immer noch nicht ausgereift. Es gibt Top-Empfehlungen auf einem Slider mit großflächigen Bildern und eine eher willkürlich anmutende Abfolge von Empfehlungskategorien. Die einzelnen in der ARD zusammengeschlossenen Sender sind nicht mehr nur über den Livestream zugeschaltet, sondern haben alle ihren eigenen Kanal bekommen. Bespielt wird das ganze einstweilen etwas planlos, bei den Empfehlungen wird auf bewährte Kost gesetzt, aktuelle Tatort-Episoden und andere Prime-Time-Formate beherrschen das Bild. Das alte Serviceprinzip “Sendung verpasst?” wirkt immer noch nach und blockiert anscheinend den redaktionellen Erneuerungs- und Gestaltungswillen.
Dabei geht es auch anders. Die Kollegen vom Zweiten Deutschen Fernsehen sind bei der Gestaltung ihrer Mediathek deutlich mutiger zu Werke gegangen. Dort haben sich die Planer spürbar an den großen Konkurrenten aus Übersee orientiert: An Netflix, Amazon Prime, YouTube, die den Rundfunkanstalten zurzeit weltweit die Zuschauer abwerben. In der ZDF-Mediathek werden offensiv Mehrteiler und innovative Serien beworben. Redaktionell gepflegte Themen und gewünschte Erlebniswelten der Zuschauer strukturieren das sorgfältig kuratierte Angebot – nicht der eher zufällige Nachhall gerade abgelaufener linearer Programme, oder die byzantinische Struktur eines komplizierten föderalen Senderverbunds.
Auch im öffentlich-rechtlichen Radio hat man die Zeichen der Zeit bereits verstanden. Hier war es unter anderem der Boom der abonnierbaren Podcasts im Internet, der das Signal zum Umdenken gab. Den Anfang machte der kleine aber feine Deutschlandfunk mit einer wirklich exzellenten Audiothek. Die Kollegen vom ARD Radio zogen kurze Zeit später mit einer respektablen Lösung nach.
Ein großes Umdenken ist notwendig geworden, und dies mehr noch beim Fernsehen als beim Radio. Denn die nachwachsenden Zuschauergenerationen sitzen eigentlich nur noch aus Trägheit vor den klassischen Endgeräten mit ihren sequentiell programmierten Kanälen. Längst setzen sich neue Nutzungsgewohnheiten durch, mit weitreichenden Konsequenzen für die gesamte strategische Aufstellung der klassischen Rundfunkanstalten.
Jedes Jahr frage ich meine Studenten, wie sie ihre Medien konsumieren. Die meisten besitzen nicht einmal mehr einen Fernseher, selbst das lineare Programm verfolgen sie als Stream auf dem Computer oder – immer mehr – auf mobilen Endgeräten. Und mit der Flexibilisierung von Ort und Zeit einher geht der zunehmende Wunsch, das Programm auch inhaltlich nach eigenen Möglichkeiten und Wünschen zu gestalten. Dabei spielen – neben Youtube, Amazon und Netflix – durchaus auch die Mediatheken der Öffentlich-rechtlichen eine wichtige Rolle. Und vielfach wird nur noch deswegen linear geschaut, weil die Mediatheken hierzulande immer noch so schlecht sind.
Hier liegt der Kern der Herausforderung, der sich die öffentlich-rechtlichen Anbieter stellen müssen: Wer heute seine Inhalte ans Publikum bringen will, muss von dessen Bedürfnissen ausgehen, und diese Bedürfnisse erfahren gerade einen rapiden, gesellschaftlich wie technologisch bedingten Wandel. Die Zeiten eines verlässlichen, etablierten sequentiellen Angebotsrasters, das man dann mit unterschiedlichem Geschick bespielen kann, sind vorbei.
Auch die neuen On-Demand-Angebote müssen natürlich Aktualität reflektieren, aber zugleich können und müssen Sie auf eine nie gekannte Weise Breite zeigen. Das bietet zugleich das Potential einer Überprüfung bestehender Angebotsstrukturen. Schon jetzt machen die Mediatheken viele Schwächen der linearen Programmierung sichtbar: So wird beispielsweise erst in der Anhäufung die Absurdität von buchstäblich Dutzenden parallel geführter Krimiserien à la Tatort oder Taunuskrimi wirklich deutlich.
Statt der auf den Primetime-Sendeplatz optimierten 90-Minuten-Folgen könnten künftig mehr neue, dramaturgisch anspruchsvollere Serienformate nach amerikanischen Vorbild entwickelt werden. Die heimatkundlichen 45-Minuten-Dokus aus dem Vorabendprogramm der Dritten, mit denen die Anstalten ihre Informationsquote aufpimpen, könnten zunehmend echten Dokumentarfilmen mit breiten gesellschaftlich-politischen Themen weichen. Auch das vermeintliche Nischenthema aus dem Nachtprogramm bekäme eine Chance auf einen Platz auf der dauerhaft zugänglichen Frontseite.
Im Zukunftsland professionell gestalteter öffentlich-rechtlicher Mediatheken würde den Nutzer eine breite Palette bedarfsgerechter Inhalte begrüßen, die abseits vom absurden Kampf um den besten Sendeplatz rund um die Uhr zur Verfügung stehen und glaubhaft und für jedermann überprüfbar verdeutlichen, dass die Sender ihrem Auftrag zur Grundversorgung an Information, Bildung und Unterhaltung wirklich nachkommen. Darüber hinaus könnten solche On-Demand-Plattformen Anschlussfähigkeit nach außen beweisen: zum Beispiel zu Partneranstalten im europäischen Ausland, oder zu anderen Anbietern öffentlicher Informations- und Bildungsgüter, wie Theater oder Museen.
Wichtig hierfür sind gut gestaltete Schnittstellen. Auf der Startseite einer Mediathek muss dem nur vorbeistreunenden potentiellen Nutzer ein breites Angebot von attraktiven Empfehlungen gemacht werden. Dem Nutzer, der dort mit konkreten Wünschen erscheint, müssen Wege eröffnet werden, transparent und schnell zu den Sendungen zu gelangen, nach denen er sucht. Alle Sendungen müssen mit hinreichend Erläuterungstext versehen sein, um Auswahl und Einordnung der Formate zu ermöglichen.
Noch gibt es viel zu wenig etabliertes Designerwissen über die Nutzerführung in großen digitalen Archiven. Auch die besten Mediatheken sind bislang weit davon entfernt, den künftigen Anforderungen gerecht zu werden. Das gilt übrigens ebenso für die kommerziellen Vorbilder aus den USA: Auch bei Netflix oder Amazon Prime ist das Stöbern in den Angeboten eher Qual als Freude. Hier besteht noch Handlungsbedarf, auch für uns Kommunikationswissenschaftler.
Eigentlich sind die öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland für die kommenden Herausforderungen gut aufgestellt. Der Programmauftrag schreibt ihnen Vielfalt vor, in ihren Archiven liegen bereits große Schätze. Eine künftig mehr auf Mediatheken hin optimierte Programmplanung könnte dieses Potential deutlich weiter entwickeln.
Dafür jedoch reicht es nicht, wenn irgendwelche Kellerteams auf Geheiß von obskuren Stabsstellen schlaue Konzeptpapiere schreiben, und diese dann mit knappen Mitteln mehr schlecht als recht umgesetzt werden. Wie in anderen Bereichen verlangt die Digitalisierung auch von den Rundfunkanstalten und ihren Intendanzen einen weit tiefer gehenden Wandel.
Programmplanung für Mediatheken, die zu umfassenden On-Demand-Plattformen heranwachsen sollen, braucht eine hohe Priorisierung, eine eigene Programmdirektion mit solider finanzieller Ausstattung. Denn nicht nur die neue inhaltliche Gestaltung, auch die dafür notwendigen technischen und organisatorischen Infrastrukturen erfordern tiefe Eingriffe in Strategie und Management der Rundfunkanstalten, ebenso wie nachhaltige Anstrengungen in den Bereichen Forschung und Entwicklung.
“Online first!” hieß der entsprechende Slogan in der Printbranche, und nur der Axel-Springer-Verlag hat sich dem bislang wirklich gestellt. “On demand first!” muss der entsprechende Slogan im Rundfunkbereich lauten, und seine konsequente Umsetzung kann für die öffentlich-rechtlichen Anstalten in Deutschland überlebensentscheidend sein. Lineare Programme werden auch künftig einen Platz im Angebotsstrauß audiovisueller Inhalte haben. Aber das lineare Paradigma darf die nachdrückliche Entwicklung zeitgemäßer Angebotsformen nicht weiter behindern.
Dieser Beitrag erschien zuerst im Dokublog von SWR2 und später bei epd medien