Anna-Lena Krampe schließt an der Hamburg Media School ihr Journalismus-Studium mit einer Masterarbeit zum Thema Datenjournalismus ab. Sie hat mich dazu befragt, wie ich diesen Begriff verstehe. Eine schöne Gelegenheit, die Resultate des Projekts aus dem Sommersemester noch einmal zu reflektieren. (Das Interview datiert vom 17. September 2011)
Zwei Beispiele: Das Stück zur Vorratsdatenspeicherung und den Handy-Daten des Politikers Malte Spitz (Zeit Online, 24.2.2011) sowie das Stück, das den Fluglärm über Berlin thematisiert (taz, seit Februar 2011). Sind diese journalistischen Arbeiten das, was Sie unter Datenjournalismus verstehen?
Sie sind zumindest das, was gegenwärtig als Datenjournalismus bezeichnet und gefeiert wird. Experten sollten nicht versuchen, einen neuen Begriff von vornherein zu besetzen und zu reglementieren. Viele Begriffe in diesem Feld, wie z.B. auch der Begriff des Kuratierens von digitalen Inhalten, sind noch in der Schwebe. In dieser Phase sollte man sich eher darauf beschränken, zu beobachten, wie die Begriffe verwendet werden.
Was macht die genannten Beispiele zu Datenjournalismus?
Eine große Menge an Informationen wird mit Unterstützung von Computern ausgewertet, um eine These zu illustrieren oder eine Geschichte zu erzählen. Idealerweise werden die zugrundeliegenden Daten dem Leser/Betrachter/Nutzer mit an die Hand gegeben, so dass er (1) den Entstehungsprozess der Geschichte nachvollziehen, und/oder (2) damit weiter arbeiten und eigene Schlüsse daraus ziehen kann.
Wäre das, was Sie unter Datenjournalismus verstehen, auch in anderen Medien
umsetzbar (Print, TV)?
Die Grenzen zu anderen Formaten, wie textbasierte Aufbereitung statistischer Daten oder Infografik, sind fließend. Man könnte natürlich ausgabeorientierte Kriterien in die Definition aufnehmen: Datenjournalismus müsste dann zum Beispiel interaktive Elemente enthalten. Interessanter sind in meinen Augen allerdings die Besonderheiten in der Recherche und Produktion datenjournalistischer Inhalte: Das besondere Quellenmaterial (große Datenbestände) und die besondere Recherche- und Analysetechnik (Data Mining, ggf. Crowdsourcing). Aus dieser Perspektive spricht nichts dagegen, Datenjournalismus auch im Print oder in klassischen elektronischen Medien (Radio, TV) zu betreiben.
Was macht ein Stück für Sie zu qualitativ hochwertigem Datenjournalismus?
Spielen klassische journalistische Qualitätskriterien (Relevanz, Aktualität, Transparenz etc.) eine Rolle?
Die klassischen journalistischen Qualitätskriterien spielen bei jeder Form von Journalismus eine Rolle, also auch beim Datenjournalismus. Was guten Datenjournalismus zusätzlich auszeichnet, ist die Verdichtung großer Informationsmengen zu einer signifikanten Aussage, bzw. die Bereitstellung eines Verfahrens, signifikante Aussagen interaktiv aus einem solchen Informationsbestand hervorzuheben.
Welche Rolle spielt es für die Qualität dieses journalistischen Stückes, dass dem Rezipienten die Möglichkeit des interaktiven Umgangs mit den Daten gegeben wird?
Eine derartige Transparenz ist immer gut und wird durch das Internet erleichtert. Ich halte es für ein Qualitätskriterium von Online-Journalismus insgesamt, dass man dem Nutzer Recherchequellen zur Verfügung stellt, wenn das irgend möglich ist. Auf der anderen Seite kann Interaktivität auch schnell zur Spielerei verkommen und überfordert in vielen Fällen die Nutzer.
In meinen Augen ist es weiterhin die primäre Aufgabe von Journalisten, Geschichten anzubieten. Dafür ist nicht immer Interaktivität nötig. Insofern würde ich diese nicht zum Qualitätskriterium per se aufwerten. Andererseits gibt es natürlich sehr schöne, spielerische Anwendungen, bei denen die Interaktivität im Vordergrund steht.
Dem Rezipienten wird durch die Möglichkeit der Interaktivität eine neue, aktivere Rolle in der Gestaltung und in der „Weiterverarbeitung“ der journalistischen Recherchen zuteil. Setzt dies einen Wandel der Rolle des Rezipienten voraus?
Wenn wir davon ausgehen, dass der Online-Journalismus dem Nutzer mehr Möglichkeiten bietet als der klassische Journalismus – Rekurs auf die Quellen; interaktiver Umgang mit Quellen und Inhalten; Aggregation vielfältiger, verstreuter Inhalte; Empfehlung und Kommunikation in der Community; etc. – dann verlangt ihm das in der Tat auch mehr ab. Natürlich machen viele Nutzer von diesen Möglichkeiten kaum Gebrauch und nutzen das Internet eher für bequemen Häppchenjournalismus. Aber vom Potenzial der Formate her benötigen wir neue, besser qualifizierte Rezipienten.
Durch die zur Verfügung gestellten Rohdaten leg der Journalist seine Quellen offen und macht seine Arbeit überprüfbar. Setzt die Bereitschaft dazu einen Wandel des heutigen journalistischen Selbstverständnis in Deutschland voraus?
Ganz bestimmt. Die Bereitschaft, sich in die Werkstatt schauen zu lassen, ist sehr schwer in die Köpfe der journalistischen Kolleginnen und Kollegen hinein zu kriegen. Nicht nur in Deutschland.
Der Datenjournalist Lorenz Matzat verortet Datenjournalismus „in der Schnittmenge von drei Bereichen: erstens visueller Journalismus oder Infografiken, zweitens multimediales oder interaktives Storytelling und drittens investigativer Journalismus.“ Von der Journalismusforschung betrachtet, liegt der Datenjournalismus somit in der Schnittmenge zwischen einer Darstellungsform, einem Kommunikationsmodus, dem Storytelling und dem Berichterstattungsmuster des investigativen Journalismus. Wo würden Sie den Datenjournalismus wissenschaftlich am ehesten verorten?
Ich denke, Matzats Versuch (den ich durchaus hilfreich finde!) zeigt, wie schwierig es ist, Datenjournalismus zu definieren. Im Gegensatz zu ihm würde ich weder den Begriff des Storytelling noch den Begriff des investigativen Journalismus zum Kernbegriff des Datenjournalismus hinzuzählen. Und ich halte, wie oben angedeutet, auch die Visualisierung nicht für wirklich essentiell.
Aber vielleicht ist es auch gar nicht sinnvoll, eine strikte Definition anzustreben. Wir haben hier eher einen Bereich von Phänomenen, die eine gewisse Familienähnlichkeit aufweisen. Man kann das am besten dadurch abbilden, dass man eine Reihe wesentlicher und typischer Merkmale auflistet.
Ein Beispiel: Essentielles Merkmal eines Blogs ist die umgekehrt chronologische Reihenfolge der Beiträge. Eine Webseite, die dieses Merkmal nicht hat, würden wir nicht als Blog bezeichnen. “Nur” typische Merkmale hingegen sind: Kommentare, Kategorien, Trackbacks, ein vergleichsweise persönlicher Schreibstil, Blogroll, etc. pp. …) Hier kann man sich vorstellen, dass einzelne Blogs nicht alle diese Merkmale aufweisen. Ein Blog jedoch, dass NUR das wesentliche Merkmal aufweist, ist eher ein Grenzfall.
In erster Annäherung würde ich für Datenjournalismus folgende essentielle Kriterien auflisten:
1) Die Quelle des Datenjournalismus sind große, strukturierte (oder der Strukturierung zugängliche) Datenbestände;
2) Aus diesen Quellen werden mit Hilfe des Datamining oder verwandter Techniken (ggf. unter Hinzuziehung einer Community) signifikante Strukturen herausgearbeitet;
3) Diese Strukturen werden zur Veranschaulichung oder Stützung einer Hypothese verwendet, oder um damit direkt eine Geschichte zu erzählen;
Nicht unbedingt notwendig, aber charakteristisch für Datenjournalismus sind folgende Merkmale:
4) Die Recherchehypothese wäre auf anderem Wege nicht oder nur sehr schwer zu belegen (das ist im Kern Matzats “Investigativjournalismus”-These);
5) Die Darstellung verwendet klassische Visualisierungstechniken und/oder Mittel der Infografik, die oftmals um interaktive Dimensionen erweitert werden;
6) Dem Nutzer wird das Quellenmaterial (idealerweise in strukturierter, digitaler Form) zur Überprüfung und eigenen Weiterverwendung zur Verfügung gestellt.
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