Gestern habe ich in der Redaktionskonferenz des immer noch reichweitenstärksten deutschen Webportals, T-Online, vor ungefähr 50 Teilnehmern eine Screenkritik vorgetragen. Die Vorbereitung dazu und die Diskussionen, die ich dort geführt habe, haben mir wieder klar gemacht, wie interessant und wichtig es ist, sich mit dem Portalgeschäft zu beschäftigen.
Als typischer Purist eines ‘besseren’ Online-Journalismus hab ich lange über diese spezifische Mischung aus Copy-und-Paste-Journalismus, Service- und Entertainmentangeboten die Nase gerümpft. Viele Jahre war ich außerdem der Meinung, dass das Konzept Webportal ein Auslaufmodell ist, das nur noch durch die Trägheit von Nutzern am Leben erhalten wird, die bei Internetzugang (T-Online), Suche (Yahoo) oder E-Mail (T-Online, Web.de, GMX) auf Seiten hängenbleiben, die ihnen eigentlich nicht mehr bieten, als ein paar Sekunden wohlfeiler Ablenkung. Dass ich mit dieser Auffassung ziemlich falsch lag, habe ich erst über einen längeren Umweg begriffen, der viel mit chinesischen Erfahrungen zu tun hat.
Anfang 2007 sollte eine chinesische Bekannte, eine erfahrene Printjournalistin aus Peking, die Chefredaktion von sohu.com, einem der vier großen Onlineportale Chinas, übernehmen. Beiläufig bat sie mich, ihr ein paar Zeilen darüber aufzuschreiben, wie ich das Portalgeschäft verstehe. Als Resultat entstand ein zweiteiliger Text (Teil 1 / Teil 2), der meinen Kenntnisstand zu jener Zeit wiederspiegelt und noch geprägt ist von der damals gerade aktuellen Diskussion um Web 2.0 im Onlinejournalismus. In einem geplanten dritten Teil wollte ich die unterschiedlichen Positionen der beiden großen Rivalen Yahoo und Google diskutieren und letztlich behaupten, dass Yahoo als Dinosaurier des klassischen Portalbusiness am Ende sei, und dass Google mit seinem Konzept der Vernetzung dezentraler Akteure und Inhalte die Zukunft gehöre. Das schien mir dann aber doch zu defätistisch für meine Adressatin, und ich verzichtete erstmal auf dieses abschließende Kapitel.
Ein paar Monate später bat mich Annette Milz, für das Medium Magazin einen Meinungsbeitrag zum Thema Orientierung im Web beizusteuern, und ich nutzte die Gelegenheit, um ein paar Gedanken über etwas auszuprobieren, das ich ‘virtuelle Marken’ nannte: eine Art Gütesiegel für dezentrale Medieninhalte, das durch eine Mischung aus kollaborativen Filtermechanismen und redaktioneller Auswahl zustande kommt, und das dem Leser hilft, die Inhalte zu finden, die zu ihm passen. Zu dieser Zeit begann man in der Medienszene den Begriff des ‘Kuratierens’ von Informationsangeboten zu verwenden, und meine Überlegungen stehen unter dem Eindruck dieser Diskussion.
Wie genau solche ‘virtuellen Marken’ aussehen könnten, darüber wusste ich zu dem Zeitpunkt nicht mehr zu sagen, als dass sie möglicherweise dann doch irgendwie portalähnliche Plattformen verwenden könnten, die mit Hilfe Web-2.0-spezifischer Mechanismen individualisierbar wären.
In den Jahren 2007 und 2008 lernte ich dann die großen chinesischen Portalseiten kennen, zuletzt etwas gründlicher während meines Forschungssemesters im Winter 2008/2009.
Wer nur Seiten wie T-Online, GMX oder meinetwegen auch MSN oder Yahoo kennt, macht sich keine Vorstellung davon, wie die gewaltigen asiatischen Webportale aussehen. Zunächst fällt auf, dass die Startseiten von Sina, Sohu, Netease oder QQ für den westlichen Betrachter unglaublich vollgestopft wirken. Kein Quadratmillimeter des wertvollen Platzes auf den Homepages und anderen Verteilerseiten wird verschenkt. Nur so, so scheint es, können die vielen, vielen Kanäle und Dienste überhaupt zugänglich gemacht werden, die hier zusammengefasst werden. In einem kleinen ad-hoc-Experiment habe ich damals die Zahl der Channels und Links auf der Homepage von sohu.com mit denen bei T-Online verglichen. Den 24 Kanälen und ca 200 Links bei T-Online standen 67 Channels und knapp 1000 verlinkten Überschriften bei sohu gegenüber. Doch selbst dieser Vergleich hinkt noch, denn bei Sohu und den anderen chinesischen Portalen setzt sich die charakteristische Fülle von Inhalten auch in der zweiten und dritten Ebene noch fort.
Ein weiterer Unterschied im Vergleich zu den westlichen Gegenspielern ist die immense Bedeutung der Community bei den chinesischen Portalen. Vor allem Sina, aber auch Sohu und die anderen Betreiber haben sofort die Bedeutung und das publizistische Potential von Weblogs und anderen interaktiven Formaten erkannt und sich zu Nutze gemacht. Sie treten nicht nur als Hoster für mittlerweile viele zig wenn nicht hundert Millionen Weblogs auf (verlässliche Zahlen sind immer ein Problem am chinesischen Medienmarkt), sie fördern diese auch, indem sie den Bloggern Anreiz bieten, auf redaktionell gepflegten Themenportalen vor einem Multimillionen-Publikum in Erscheinung zu treten. Auf diesen Seiten bekommt man zu Themen wie Autos, Bücher, Militär oder Küche die gerade beliebtesten und heißesten Blogs und Beiträge vorgeführt, geschickt garniert mit ein paar eingekauften Celebrity-Bloggern. Und dieser Wettbewerb führt dazu, dass die chinesische Blogosphäre nicht nur sehr viel größer ist als etwa die deutsche, sondern auch sehr viel qualifizierter. Außerdem werden die Blogger von den Portalbetreibern regelmäßig zum Gedankenaustausch eingeladen.
Aber nicht nur auf Blogs kommt die Community zu Wort, praktisch auf allen Kanälen gibt es Interaktion, sei es als Kommentarfunktion unter den Artikeln, sei es in Webforen oder Umfrageformaten. “Wo shuo liang ju”, Ich sage zwei Sätze, heißt bei Sohu die Einladung an die Leser, ihre Meinung zu äußern. Und die Chinesen lieben es, sich zu Wort zu melden. Wenn man sich daran erinnert, dass all dies unter den scharfen Augen der Zensurbehörden stattfindet, muss man umso mehr Respekt vor den Portalbetreibern empfinden, die hier tagtäglich hochnotpeinliche Sanktionen riskieren, um ihren Nutzern den Platz einzuräumen, der ihnen im Internet gebührt. (Selbstverständlich haben sie dabei auch ihr Geschäft im Auge…)
All das geht natürlich nicht ohne größeren Personaleinsatz. Ungefähr 1000 Redakteure sind beispielsweise bei Sina.com beschäftigt, neben weiteren jeweils 1000 Mitarbeitern im Bereich Technik und im Bereich Sales. Natürlich spielt dabei eine Rolle, dass junge Journalisten in China noch weniger Geld kosten als hier in Deutschland. Aber man sollte daraus nicht den Schluss ziehen, dass es in den Großraumbüros der Portalredaktionen unprofessionell zugeht. Die Newsredaktion von Sohu, etwa, veröffentlicht neben dem regulären Nachrichtengeschäft jeden Tag vier oder fünf Themenspecials, und ich habe mir erzählen lassen, dass, als Pakistans frühere Ministerpräsidentin Benazir Bhutto im Oktober 2007 einem Anschlag zum Opfer fiel, es keine drei Stunden dauerte, bis eine hochprofessionelle Themenseite, mit Biographie, Hintergründen, Analysen und Quellen, im Netz stand.
Mein persönliches Lieblingsbeispiel ist die Themenseite, die Sohu zum 50jährigen Erscheinungsjubiläum des Beat-Generation-Klassikers “On the Road” von Jack Kerouac veröffentlicht hat. Man zeige mir ein deutsches Webportal (oder überhaupt ein deutsches Internetangebot!) das ein solches Ereignis mit so viel Liebe und Aufwand gewürdigt hat oder hätte!
Doch zurück zu einer weniger persönlichen Perspektive. Die großen chinesischen Portale sind mittlerweile die zentrale Anlaufstelle für die jungen Chinesen, wenn es um jedwede Art von Information geht. Ob Nachrichten, Verbraucherinformationen, Marktberichte von der Börse oder die neuesten Gaming-Erfahrungen, die Portale bedienen alle Bedürfnisse, und sie bedienen sie exzellent. Immer noch dürfen die Portalredaktionen dabei in den meisten Themenfeldern nicht selbst journalistisch tätig werden (Wirtschaft, Lifestyle und Sport sind die Ausnahmen). Aber auch in der Auswahl aggregierter Inhalte aus anderen Quellen kann man sich publizistisches Profil erarbeiten. Und die Portale sind somit – auch dies anders als in Deutschland – zu einer wirklich relevanten Instanz in der chinesischen Öffentlichkeit geworden. Relevanter sogar als das chinesische Fernsehen, das, im Gegensatz zu den unternehmerisch betriebenen und mittlerweile durchweg börsennotierten Portalbetrieben weiterhin staatlich organisiert ist und wenig Glaubwürdigkeit genießt.
Chinas Portale haben natürlich mit den Beschränkungen des chinesischen Mediensystems und vor allem mit seinen Zensurbehörden zu kämpfen. Sie bemühen sich mal mehr, mal weniger erfolgreich darum, als eigenständige journalistische Medien arbeiten zu können. Wenn es Naturkatastrophen wie das große Erdbeben in der Provinz Sichuan im Jahre 2008 gibt, dürfen sie schon mal ihre eigenen Reporter losschicken, aber in Zeiten politisch heiklerer Ereignisse wie bei den 2008er Olympischen Spielen in Peking, bei den Jahrestagen der brutalen Niederschlagung der Tian An Men-Proteste jeweils am 4. Juni oder beim 60-jährigen Staatsjubiläum der VR China im Jahre 2009 schrumpfen die Spielräume dann sehr schnell wieder zusammen.
Dennoch, ich hoffe, eins ist klargeworden: Diese Portale sind alles andere als ein Auslaufmodell. Im Gegenteil, sie könnten vielen westlichen Betreibern als Vorbild dienen. Denn selbst, wenn man die gewaltigen Personalressourcen und ein potentielles Milliardenpublikum einmal außer Acht lässt (Sina.com rühmt sich gerade 280 Millionen registrierter Nutzer und einer knappen Milliarde täglicher Seitenaufrufe), bleiben die Professionalität, die Dynamik und der Ehrgeiz dieser Anbieter extrem eindrucksvoll. Sie haben es verstanden, jeden nur erdenklichen Winkel in der Lebenswelt ihrer Nutzer publizistisch zu besetzen und – zum großen Teil – auch zu monetarisieren. Kein Trend bleibt unbeachtet (nach Videosharing ist momentan Microblogging der aktuelle Hype). Und all das wird auf äußerst clevere Weise im Dialog mit den Nutzern entwickelt, in einer bis in die kleinste Nische gelebten Community.
Angesichts dieser Eindrücke fällt es schwer, beim Vergleich mit unseren hiesigen Konkurrenten fair zu bleiben. Natürlich ist selbst T-Online als deutscher Marktführer um eine Größenordnung kleiner als die beschriebenen Portale, und es ist dennoch natürlich auch eine Erfolgsgeschichte. Aber wenn man sich das Angebot von T-Online oder anderer deutscher Portalbetreiber genauer anschaut, fällt einem doch schnell auf, dass es hier immer noch an publizistischer Stringenz und Vision fehlt. Die Angebote wirken zusammengewürfelt und unübersichtlich, und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier nicht der Nutzer mit seinen Bedürfnissen im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, sondern vor allem die Klickstatistiken der Suchmaschinenoptimierer oder die Businesspläne der Vermarkter. Und, bei allem Respekt: Weder SEO noch Sales sind in der Lage, eine Erlebniswelt zu gestalten, in die einzutauchen einem breiten Querschnitt der Bevölkerung jeden Tag aufs Neue Spaß macht, und die für sie relevant ist. Da bleibt es dann doch wieder an der von mir eingangs beklagten Bequemlichkeit der Kunden von Suche, E-Mail oder anderen primären Services, die relative Erfolgsgeschichte hiesiger Portale zu erklären. Weit mehr wäre möglich.
Sehr spannend – danke für den Überblick.
Gibt es eigentlich Informationen über die Verweilzeit der Nutzer auf den chinesischen Seiten?
Thomas, aktuelle Daten über die Verweilzeit auf den Portalseiten oder die Nutzungsdauer von Online-News liegen mir momentan nicht vor. Ich schau mal, ob sich was Brauchbares finden lässt. Über das Problem der Internet Metrics in China hab ich ein bisschen was in dem oben verlinkten Text geschrieben: Die große ‘offizielle’ Statistik bekommt man zweimal pro Jahr aktualisiert vom China Internet Network Information Center (CNNIC), aber die Zahlen und Daten dort sind (1) nicht wirklich verlässlich und (2) für dein Interesse nicht spezifisch genug. Schon gut zwei Jahre alt ist eine schöne Zusammenfassung wichtiger Daten der Agentur Trendsspotting in ihrem Handbook of Online China – nach meiner Kenntnis leider seither nicht aktualisiert. In Sachen Community und Social Web interessant sind auch immer die White Paper und Präsentationen zum “Internet Word of Mouth” der Agentur CIC.
Dass es in China eine aktivere und qualifiziertere Blogosphäre gibt als hierzulande, kann vor allem darauf zurück geführt werden, dass dort eine (einigermassen) freie Publizistik gleichzeitig mit der Verbreitung des Internet möglich wurde. Kein Wunder, dass da das Web 2.0 das Medium der ersten Wahl ist. — Die so entstandene Publizistik, die in hohem Masse die Nutzer mit einbezieht, wird die gesellschaftliche Entwicklung massgeblich begünstigen. Zumal die (bestehende) Zensur inzwischen längst Äusserungen durchgehen lässt, die vor wenigen Jahren noch Folgen gehabt hätten. Wer bei uns den Qualitätsjournalismus mit seinem allzu oft öden bildungsbürgerlichen Duktus verteidigt, tut gut daran, sich bei den Chinesen zu orientieren (weshalb dieser Beitrag sehr zu begrüssen ist). Doch dürfen auch die kulturellen Gegebenheiten nicht ausser Acht gelassen werden: Ein aufstrebendes Milliardenvolk in einem einheitlichen Sprachraum, das betont extrovertiert ist (wer in Chinas Gaststätten unterwegs war, weiss was gemeint ist), bietet ganz andere Voraussetzungen als ein mehrsprachiges Europa, das sich verängstigt an seine Errungenschaften klammert. Doch gerade das macht die Beispiele aus China für uns eigentlich noch wertvoller.
Ja, das ist richtig. Wobei man, bei allem Respekt und aller Begeisterung für das, was diese jungen Teams da leisten, natürlich auch sagen muss, dass China noch weit von einer wirklich freien Publizistik entfernt ist. Und die Portale profitieren auch andersherum von der preiswerten Verfügbarkeit staatlich ‘gewollter’ Inhalte. Was die täglichen Mechanismen der Zensur bei den Portalen angeht, hat Reporter ohne Grenzen vor drei Jahren einen sehr gut informierten Bericht (PDF-Link) veröffentlicht. Über die Kontrolle der Blogosphäre wissen wir dank Rebecca McKinnons Bemühungen sehr viel mehr. Das wäre allerdings Stoff für ein weiteres ausführliches Blogpost.