Insgesamt scheint es an diesem Wahlabend eine Menge Gewinner gegeben zu haben – fast jeder hat irgendwie das ihm zugewiesene Plätzchen als angemessen akzeptiert, mit Ausnahme der Unionsparteien. Ich versuch mal eine spontane Bewertung des vorläufigen Ergebnisses:
Positiv: Die Union ist nicht zu groß geworden. Sie hat damit ihre Quittung bekommen, nicht nur für eine uninspirierte, konzeptlose Kampagne mit vielen, krassen Fehlern: Erhöhung der Mehrwertsteuer (darüber redet man nicht!), Kirchhof (wenn schon, dann richtig!) – sondern auch für den schalen Nachgeschmack, den die 16 Jahre Kohl, zahllose Affären, unwürdige parteiinterne Intrigen etc hinterlassen haben. Dieser Nachgeschmack hat anscheinend bei längerem Nachdenken dann doch vielen potentiell konservativen (oder sollte ich sagen: reformwilligen?) Wählern das Kreuz ausrutschen lassen.
Negativ: Die Grabenkämpfer der Partei, die Stoibers, Kochs, Merzen und Co werden die Schuld für dieses Debakel mittelfristig komplett auf Angela Merkels Schultern abladen – die zwar ihren Anteil daran hatte, aber doch nicht mehr als alle anderen auch. Damit ist vermutlich eine weitere Chance für eine Erneuerung dieser Partei vertan.
Positiv: Der Aufholerfolg bei der SPD geht überwiegend auf das Konto von Gerhard Schröder und bestätigt und stützt damit den reform-orientierten (lies: rechten?) Flügel der Partei. Das Resultat bestätigt damit auch den unglaublichen politischen Instinkt Schröders, der es wahrscheinlich letztlich darauf abgesehen hatte, eine große Koalition oder doch zumindest eine tragfähigere Konstellation für seine Regierung herbeizuführen.
Negativ: Mittelfristig oder langfristig wird der ideologische Magnetismus, der von der Gysi-Lafontaine-Partei ausgeht, zu einer Erosion der verbliebenen Sozialdemokratie führen. Das wird die Partei weiter schwächen, ihr aber vielleicht auch die Chance geben, sich in der Abgrenzung weiter in Richtung New Labor zu profilieren.
Positiv: Die Liberalen haben Erfolg damit gehabt, Profil statt bloße Werbekampagnen vorzuführen. Man kann nur hoffen, dass sie dieses Profil in der Opposition ohne opportunistische Bindung an eine der großen Parteien weiter entfalten können und damit zur politischen Debattenkultur beitragen.
Positiv: Wir haben jetzt eine echte parlamentarische Linke! So wenig ich den Mief sozialistischer Weltbilder leiden kann – in der Opposition bilden sie ein gutes, sinnvolles Korrektiv zu allzu funktionalistischen, technokratischen Politik-Konzepten. Außerdem ist eine Ausdifferenzierung des politischen Spektrums ganz in Ordnung. Und Gysi und Lafontaine sind nicht die unsympathischsten Vertreter ihrer Sache – trotz der geradezu maßlosen Kampagne, die in den letzten Wochen vor allem gegen Lafontaine gefahren worden ist.
Positiv auch: Die Grünen bleiben uns erhalten. Sollten sie aus der Regierung verschwinden, finden sie vielleicht sogar zu einer dringend notwendigen Erneuerung ihres Programms, statt sich weiterhin hinter der staatstragenden Gallionsfigur Fischer zu verstecken.
Positiv, insgesamt: Das Wahlergebnis überträgt die Verantwortung zwei eher angeschlagenen Volksparteien, die somit nicht einfach selbstgefällig mit bestehenden Rezepten drauflos regieren können. Beide stehen unter einem gewissen Druck, sich neu zu definieren. Das Ergebnis platziert drei sehr unterschiedliche, aber allesamt starke Player in die Opposition, als ein starkes, unorthodoxes Korrektiv. No need for an APO. Die politische Kultur in Deutschland wird daran keinen Schaden nehmen.
Ich habe in den letzten Tagen viele Kommentare zur politischen Landschaft in Deutschland gelesen – aber ich muss sagen, kein Kommentar bzw. kein Fazit hat es vermocht alles so schön auf den Punkt zu bringen und so ausgewogen darzustellen, wie Ihr Kommentar.
Auch wenn ich es schade finde, dass Rot-Grün nicht weitermachen kann. Man hätte aber durchaus über Rot-Rot-Grün nachdenken können – aber leider sperrt sich ja die Linke und die SPD – wobei die Grünen sicher nicht abgeneigt gewesen wären (jedenfalls Teile der Grünen).
Danke für das Lob. Mittlerweile haben sich die Dinge ja ein bisschen weiter entwickelt und zu meiner Einschätzung gesellt sich zunehmend Verärgerung über das dreiste Auftreten von Schröder und der SPD. Das ist ein unwürdiges Spektakel, was wir da sehen, und es färbt merkwürdigerweise auch auf die anderen Parteien ab, die eigentlich gar nichts falsch machen, soweit ich das beurteilen kann.
“… die anderen Parteien […], die eigentlich gar nichts falsch machen”. Es gibt ja – angeblich und wieder mal – “keine vernünftigen Alternativen” (Merkel). Ich hätte da eine gewusst. Wäre ich Politikberater der CDU, hätte ich Angie angeraten, Schröder durch den eigenen Rückzug als Kanzlerinasiprantin zur Aufgabe seiner egomanen Ansprüche zu nötigen. Damit wäre sie aus der Schusslinie der parteiinternen Querelen und könnte der nun fast zwangsläufigen Demontage entgehen. Sie würde Superministerin (Wirtschaft+Finanzen), Schröder machte Außen, Stoiber bliebe in Bayern, Merz im Sauerland. Kanzler würde … (“Versöhnen statt Spalten”)… Schäuble (Tusch!). Das Publikum, denk ich, fände das respektabel. Die Journaille, die jetzt darauf spannt, wie das Mädchen zerpflückt wird, zöge den Hut.