Ich lese gerade mal wieder einen Vorfahren. Genau genommen keinen Vorfahren, sondern einen Urururgrossonkel namens Friedrich Johann Lorenz Meyer, Domherr in Hamburg. Der begleitete im Jahre 1796 seinen Freund Georg Heinrich Sieveking ins nachrevolutionäre Frankreich. Sieveking sollte in Paris als Deputierter der Hansestadt Hamburg mit dem Direktorium der französischen Republik über eine Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen verhandeln. Gemeinsam nutzten die beiden die Reise, um einen Eindruck von der herrschenden Stimmung in der neuerdings bürgerlich beherrschten Metropole zu gewinnen.
Meyer dankt Sieveking im Vorwort seines Reiseberichts für die “mit Aufopferung und freiwilligem Verzicht auf andern uns so vielfach dargebotnen Genuss, verbundnen angestrengten Arbeiten und uneigennützigen Bemühungen für das Wohl unserer freien und glücklichen Vaterstadt”. Das mit dem “Verzicht” bekommt angesichts der mehrfachen Erwähnung “feiler Mädchen aus allen Winkeln des Tempels der Wollust” in den Reiseerinnerungen eine besondere Note.
Schön sind auch die Kundgaben leiser Genugtuung über die Resultate der Revolution (bei aller Abscheu vor den Exzessen jakobinischen Terrors), wie etwa in der folgenden, nicht ganz frei von persönlicher Rancune geschilderten Geschichte:
“Als ich eines Tages, im Winter 1784 [auf einer früheren Parisreise], über den Pont Neuf fuhr, und mein Wagen nach dem Quai de Conty umbog, stürmte der wilde Herzog von Orleans in seinem vierspännigen Phaeton hinter mir nach der Strasse Dauphine mit solcher Gewalt vorbei, dass mein Wagen von dem seinigen an den Rädern gepackt, und mit fürcherlicher Heftigkeit auf das Pflaster hingeschleudert ward, wobei ich zwar mit einer leichten Quetschung davon kam, mein Kutscher und Lohnbedienter aber durch den Umsturz stark beschädigt wurden. Solche, damals häufigen Vorfälle, begegnen einem jetzt nicht mehr; und jene Übermüthigen sind verschwunden, – die gleichgültig zusehen konnten, wenn ein Mensch von ihren Pferden zertreten ward.”
Eine, ebenfalls verkehrstechnische, Anmerkung über die Emanzipation der Frauen möchte ich noch zitieren:
“Das Selbstkutschiren der Damen ist herrschende Mode. In ihren Kabrioletten stürmen die fröhlichen jungen Republikanerinnen – wenn man sie so nennen kann, diese Mädchen der Freude, die sich selbst der Larve des Republikanismus schämen, – in ihrer Morgenkleidung und im Putz, mit grosser Geschicklichkeit im Leiten und Wenden, allein oder zu zwei, durch die Gassen. Sie fahren selbst, wenn ihnen gleich ein Mann zur Seite sitzt, der nun, mit Ergebung in den weiblichen Aristokratismus, zusehen muss, wie seine Gebieterin den entwandten Zügel regiert, und die Peitsche über ihn schwingt.”
Der Reisebericht bietet auch sonst noch viel Interessantes, unter anderem eine genaue Bestandsaufnahme des Zeitungswesens jener Periode. Aber davon erzähle ich ein anderes Mal.
(Reproduktion des Meyer-Porträts von Friedrich Carl Gröger: Wikimedia)
Gerne mehr davon… 🙂