In seinem 2006er Bericht an den Europarat „Public Service Media in the Information Society“ (pdf) vertritt der Däne Christian S. Nissen die These, dass Reichweite das wichtigste quantitative Erfolgskriterium für Public Service Media sei: „Reach is the most important quantitative success criterion for public broadcasters.“ (S. 24). Trotz der Beschränkung auf quantitative Bewertungskriterien halte ich diese These für eine irreführende und gefährliche Überbewertung (in der Zwischenüberschrift nennt Nissen Reichweite „A sine qua non for public service“).
Zunächst muss man eine naheliegende Einschränkung machen, die auch Nissen – zumindest teilweise – bewusst ist: Reichweite sollte sich nicht in allen Fällen am potentiellen Gesamtpublikum einer Anstalt orientieren. Denn es ist denkbar, dass einzelne Programmanteile spezifisch bestimmte lokal, kulturell oder anders definierte Teilöffentlichkeiten ansprechen. Reichweite in einem relevanten Sinn muss also immer relativ zur intendierten Zielgruppe gesehen werden.
Zur Verteidigung seiner These von der vorrangigen Bedeutung der Reichweite beruft sich Nissen auf die ‚Kohäsionsaufgabe‘ der Public Service Media, auf deren Job, eine gemeinsame, geteilte Öffentlichkeit in der Gesellschaft herzustellen. Nun ist diese Aufgabe nicht die einzige, vielleicht nicht einmal die vorrangige Aufgabe der PSM. Und selbst wenn wir auf sie fokussieren, kann es durchaus sein, dass ihr auch mit einem Programm gedient ist, das nur einen Teil der Gesamtöffentlichkeit, oder sogar nur einen Teil einer relevanten Teilöffentlichkeit erreicht. Wichtig ist nicht die Reichweite, sondern die Anschlussfähigkeit des Programms.
Ein Beispiel: Ein politisches Magazin betreibt investigativen Journalismus und deckt eine Korruptionsaffäre in Regierungskreisen auf. Selbst wenn nur eine verschwindend kleine Minderheit dieses Magazin tatsächlich gesehen hat, ist der Job in dem Moment getan, wo die Veröffentlichung gesellschaftliche Konsequenzen hat. Dies kann durch ein dadurch angestoßenes Ermittlungsverfahren geschehen, durch Anschlussveröffentlichungen anderer Medien oder das Aufgreifen der Affäre in politischen oder zivilgesellschaftlichen Prozessen.
Ein anderes Beispiel aus einem nicht-journalistischen Bereich: Zu den Kernaufgaben der PSM kann man die kulturelle Nachwuchsförderung zählen. Wenn eine Anstalt beispielsweise bestimmte Film- oder Videoprojekte fördert und Nachwuchstalenten auf diese Weise Produktionsmittel, Infrastrukturen und eine erste größere Bühne zur Verfügung stellt, so ist es allerhöchstens von sekundärer Bedeutung, wie breit das Publikum für die tatsächliche Präsentation der Werkstücke ist, denn der primäre ‚Job‘ der PSM besteht darin, mögliche Entwicklungswege für die betreffenden Nachwuchstalente zu eröffnen und überhaupt die notwendigen Spielräume für eine Dynamik des kulturellen Feldes zu gewährleisten. Auch hier geht es wieder um die Anschlussfähigkeit des gesamten Vorgangs, wobei nicht einmal die tatsächliche ‚Ausstrahlung‘ im Zentrum steht, sondern auch schon die vorbereitenden Schritte der Produktion von großer Bedeutung sind.
Aus diesen Gründen ist es so wichtig, sich endlich vom Fetisch der Reichweite zu lösen und statt dessen auch weitere Erfolgswährungen in den Vordergrund zu holen wie beispielsweise den in der PR längst gängigen Begriff der Wirkung (Impact).