Bastian Sick hat sich in der jüngsten “Zwiebelfisch”-Kolumne der kreativen Blüten in den Lautsprecherdurchsagen der Deutschen Bahn angenommen: “Unsinn mit Ansage”. Gelegenheit für einen Leserbrief:
“Lieber Bastian,
als Dauerpendler danke ich dir ganz besonders für deine Kolumne zu den Ansagen der Bahn. Ich habe noch ein paar Ergänzungen.
Vieles, worüber man sich ärgert, ist ja eher inhaltlicher als sprachlicher Natur. Etwa wenn die zweite Fahrkartenkontrolle auf längeren Zugfahrten grundsätzlich mit dem “Personalwechsel” begründet wird. Jeder bessere Beobachter weiß, dass das Personal hier in den meisten Fällen nur vom vorderen zum hinteren Zugteil wechselt, und umgekehrt, vor allem um sogenannte “Graufahrer” aufzuspüren, die sich mit Kurzstreckentickets längere Fahrten zu erschleichen versuchen.
Oder die Karrieren, die Ausreden für unplanmäßigen Aufenthalt oder Verspätung im Laufe einer Zugfahrt durchmachen. Dort wird in den meisten Fällen schlicht gelogen, und diese Lügen werden kaum, wenn überhaupt, koordiniert, so dass man die wundersamsten Entwicklungen zu hören kriegt, vom Stellwerkproblem über den Weichenschaden bis hin zum Triebwerksdefekt. Der Höhepunkt war die finale Begründung “wegen eines Vogels, der ins Fahrgestell geraten ist”, für eine langsam kumulierte Verspätung von insgesamt über einer Stunde auf der IC-Strecke von Köln nach Hamburg. Da konnte man das Augenzwinkern des humorvollen Zugchefs quasi mithören.
Ein anderes Mal lag, nun aber wirklich und ungelogen, ich habe es mit eigenen Augen gesehen, ein halbes Schwein auf den Gleisen, die vordere Hälfte, komplett mit Kopf und Vorderläufen, säuberlich in der Mitte getrennt. Frag nicht, wie es dazu gekommen sein kann. Das ganze sah eher unblutig aus, ich vermute also, die Halbierung war nicht auf einen Zusammenstoß mit einem Zug der Deutschen Bahn zurückzuführen.
Als ich auf dem Rückweg von meinem Ausflugsziel wenig später dieselbe Stelle passieren wollte, war der Gleisabschnitt inzwischen gesperrt. Hier hat man sich dann in den Lautsprecherdurchsagen langsam an die wahre Geschichte herangearbeitet – ohne sie jedoch je zu erreichen. Von “Bauarbeiten” war zunächst die Rede, neben den üblichen “Stellwerkproblemen”, dann immerhin konnte man sich zu “Räumungsarbeiten” durchringen, und schließlich – oh Kühnheit! – erzählte man, ein unglücklicher Hund sei auf die Gleise geraten.
Aber viele Patzer sind eben doch sprachlicher Natur. Zum Beispiel eine – wenn ich das richtig sehe – Neuschöpfung der letzten Monate: das Weglassen der präpositionalen Kopplung in Satzgefügen wie: “In wenigen Minuten erreichen wir Göttingen. Sie haben Anschluss ICE 345 nach Berlin Ostbahnhof um 19:34 aus Gleis 7. Ferner haben Sie Anschluss Regionalbahn nach Hannover um 19:42 aus Gleis 102.” Das hört man mittlerweile so regelmäßig, dass ich sicher bin, es gibt eine entsprechende Dienstanweisung.
Ein weiterer Klassiker ist der knapp fehlgeschlagene Hinweis auf die “Bordgastronomie, wo Sie unser freundliches Service-Team gerne erwartet”. Das zumindest, muss man sagen, ist partiell wahr, denn in vielen Fällen wartet das Service-Team lieber, als dass es einen bedient.
All diese schief geschliffenen Phrasen sind ja nicht auf den Mist des armen Service-Personals gewachsen, das Tag für Tag gezwungen ist, den verärgerten Fahrgästen entgegenzutreten. Es muss vielmehr irgendwo ein zentrales Team von Sprachkünstlern geben, das diesen Phrasenbestand entwickelt und pflegt, und irgendeine Instanz im gehobenen Management, die diesem Team die strategische Richtung vorgibt (“Lügen Sie, meine Herrschaften, lügen Sie! Die Welt will betrogen werden! Der Kunde ist König!”)
Diese Leute gehören zu dem erlauchten und gar nicht einmal kleinen Personenkreis, für den ich mir die Wiedereinführung von Pranger und Prügelstrafe wünsche.
Sei ganz lieb gegrüßt, von
Deinem Lorenz.”
Nett ist auch der “mobile Bahnsteigservice”, der die verärgerten Kunden mit “Heiß- und Kaltgetränken” erwartet, wenn der Zug mal wieder erfolglos dem Fahrplan hinterher gefahren ist.
das Weglassen der präpositionalen Kopplung
Wo ist das Problem? Denk Dir einen Doppelpunkt und es passt. Nur weil Du etwas anderes erwartet (oder das Zugpersonal die Sätze falsch betont), heißt das ja nicht, dass sie falsch wären. Im Gegenteil, dieser Aufzählungsstil gibt dem Personal Gelegenheit, im Fahrplan zu blättern und hilft ihnen dabei, ihren Job etwas leichter zu erledigen als wenn sie auch noch darauf achten müssten, vollständige Sätze zu bilden: “Sie haben Anschluss:” — blätter blätter — “ICE 0815 / EC 134 / Regionalbahn Dideldumm”
(Disclaimer: Ich kann besserwisserische sog. “sprachkritische” Glossen nicht ausstehen und bin fast immer & prinzipiell auf der Seite derer, deren Sätze als Beispiel für besonders gräuliche Vergehen gegen “die Sprache” herhalten müssen. Schon allein zur Selbstentlastung. Es lebt sich sehr viel leichter, wenn man nicht glaubt, man sei gezwungen, Karl Kraus gerecht zu werden. Im Gegenteil: Die Erkenntnis, dass das nicht geht ist der erste Schritt zum Verständnis des Phänomens KK. Und der Literatur. Und überhaupt)
*g* Why am I not surprised?
Giesbert, du bist eben kein Bahnfahrer. Solche Motivationslagen muss man immer im Leidenskontext sehen.
Abgesehen davon ist auch vor einem Doppelpunkt der Satz “Sie haben Anschluss” keine gelungene Vorbereitung für die dann folgende Liste.
Und der trotzige Widerstand gegen Sprachkritik, den ich nicht nur von dir kenne, erinnert mich immer ein bisschen an die Aufwallungen eines bedingungslosen Philo-Amerikanismus, die in den ersten Monaten der aktuellen Bush-Regierung aus manchen erstaunlichen Ecken zu hören waren. Ich weigere mich einfach, das anders als eine Polemik contre coeur zu verstehen.
Sprache ist ein so subtiles Ausdrucksmittel, dass sich in ihre Physiognomie die Nuancen des Denkens und Fühlens so deutlich einschreiben wie Intelligenz und Charakter in ein Gesicht. Zugegeben, nicht jede Falte sagt etwas über eine Person, aber die meisten tun es eben doch.
> Giesbert, du bist eben kein Bahnfahrer.
surprise,surprise – doch, das bin ich. Nicht täglich, aber doch.
Ich erwarte bei einer Durchsage mit rein informellen Charakter keine ausgefeilten Sätze (die dauern auch viel zu lang und geraten den Sprechern meist dann doch so, dass es eher weh tut), sondern kurz & knapp die Informationen, die ich brauche. Nämlich: Verspätung / Ankunftzeit / Anschlusszüge. Punkt. Das ist eine der der aktuellen Situation perfekt angepasste Sprache. Ab und an hört man auch das noch knapper-korrektere: “Ihre Anschlusszüge: {Folgt Liste}”
Ansonsten versuche ich bei Bahnfahrten eher das unsägliche Geschwätz der telefonierenden Idioten um mich herum möglichst auszublenden. (Und seit ich mein Powerbook dabei habe und an meinen Websites arbeiten kann, geht das auch 8-))
> Und der trotzige Widerstand gegen Sprachkritik
ich hab überhaupt nichts gegen Sprachkritik, einige meiner liebsten Autoren sind Sprachkritiker (zB Gremliza & Henscheid. Gremlizas Express exerziert dann auch vor, wie man sowas macht).
Es gibt übrigens ein hübsches Buch zu dem Thema, vom Sprachwissenschaftler Willy Sanders: “Sprachkritikastereien und was der Fachler dazu sagt”. Ein blöder Titel, gewiss, aber ein gutes Buch.
Und auf die “Plastikwörter” von Uwe Pörksen könnte man an dieser Stelle eigentlich auch mal hinweisen.
> Sprache ist ein so subtiles Ausdrucksmittel, …
Hey it’s Mr. States-the-Obvious. 😉
Komisch, und ich dachte, ich müsste dich in diesem Zusammenhang noch mal aufs Offensichtliche hinweisen – angesichts deiner herzzereißenden Distanzierung vom Besserwissertum. 🙂
Im Ernst zieht doch jeder seine Grenze zwischen “Sprachkritik” und Sprachkritik normalerweise da, wo die eigenen Idiosynkrasien beginnen. Manche verbrämen das dann auch noch mit linguistischen Weisheiten. Sprache ist ein normatives System, kein natürlicher Tatbestand. Das heißt, was darin falsch ist, bestimmen immer die anderen.
Auf Ihren Leserbrief an Sick haben wir gerne verwiesen.
Ach, der Sick! Da wird einem im Test “Wie gut ist Ihr Deutsch?” (Folge 2, S.248) gelernt, dass das Demonstrativpronomen im Akkusativ Neutrum “diesen” lautet. Im Ernst. Einzubimsen ist, dass es “Anfang dieses Jahres”, nicht “diesen Jahres” heißt. Dazu, warum diese Beugung jener Konkurrenz macht, kein Wort. Und dabei wäre doch ein Blick in die Zukunft, nämlich auf den “Anfang nächsten Jahres” so naheliegend.